die wahrheit: Neues aus Neuseeland: Die "Bild"-Zeitung sucht das Horror-Haus
"Nip/Tuck" war gerade vorbei und ich vor dem Fernseher eingeschlafen. Christian Troy im rosa Hemd geisterte mit Botox-Spritze durch meine Träume, als das Telefon schrillte...
"Nip/Tuck" war gerade vorbei und ich vor dem Fernseher eingeschlafen. Christian Troy im rosa Hemd geisterte mit Botox-Spritze durch meine Träume, als das Telefon schrillte. Es musste hart auf Mitternacht zugehen. Das konnte nur Deutschland sein. Zeitverschiebung ist ein Phänomen, das auch in Zeiten der Globalisierung noch zu faszinieren vermag: "Guten Morgen, oder besser: guten Abend, ach ist ja komisch, haha!" Ich setzte meine professionelle Stimme auf. Um diese Zeit war ich aufs Schlimmste gefasst. Und es war das Schlimmste. Es war die Bild-Zeitung.
Ich bin Auslandskorrespondentin am Arsch der Welt. Es ist ein schöner Arsch, zugegeben, der aber in Deutschland nur Leute interessiert, die sich bevorzugt in Goretex-Jacken und Wohnmobilen aufhalten. Öko-Exotik sorgt kaum für fette Schlagzeilen. So unbedeutend scheint mein journalistisches Kampfgebiet zu sein, dass es schon gewaltig im Südpazifik rappeln muss, bis ein Redakteur im fernen Europa Zeilenplatz für Aotearoa freiräumt.
Greift doch mal jemand zum Hörer und stöbert mich auf, dann vermute ich sofort ein Großereignis: Erdbeben, Tsunami, Dritter Weltkrieg oder Atomversuch auf einem Südsee-Atoll. Zumindest eine Explosion wie die auf der "Rainbow Warrior" sollte drin sein, wenn aus 20.000 Kilometer Entfernung nachts Telefonalarm gemacht wird.
Den Kollegen von der Bild-Zeitung verstand ich nicht auf Anhieb. Der Fernseher lief noch. "Horror-Haus" hörte ich heraus. Was war bloß passiert? Massenselbstmord in einer Maori-Sekte? Ein Dutroux oder Fritzl down under? Die ganze Welt wusste längst davon, nur ich nicht - welch eine Blamage. Die Reputation der "Weltreporter" stand auf dem Spiel, weil ihr entlegenstes Mitglied statt der Spätnachrichten lieber eine Serie über Schönheitschirurgen guckt.
Dann verstand ich. Eine Leipziger Musiklehrerin hatte im Internet einen Kiwi kennengelernt. Als sie in Dunedin landete, entpuppte sich der angeblich 33-jährige Charmeur als ungepflegter alter Sack. Katzen, Hunde und Hühner schlichen durchs Haus. Überall lag Müll herum, und nachts legte der bärtige Schrat sich neben sie ins Bett - nackt! Sie war geschockt. Und ich erst. Erschütternd das Ganze. Nach fünf Tagen floh sie aus dem Land. Die Schlagzeile sah ich förmlich vor mir.
Doch was war mit Fotos? Kleinlaut musste ich dem Bild-Mann gestehen, dass ich keine Bilder vom "Horror-Haus" besaß. Erst im Nachhinein fiel mir ein, dass es allein in meiner Nachbarschaft etliche Häuser gibt, die nicht dem Leipziger Zweiraumwohnung-Hygienestandard entsprechen. Ein Huhn hätte ich auch noch aufgetrieben. Ob Dunedin oder Lyttelton - das würde keinen Bild-Leser groß stören. Hauptsache, Horror in Neuseeland. Aber darauf kam mein müdes Hirn nicht mehr.
So verpatzte ich meine Chance auf eine richtig große Story. Zum Glück rief wenige Tage später eine seriöse Tageszeitung an. Es war ein Uhr nachts. Der Redakteur konnte seine Aufregung kaum verbergen: "Unser Aufmacher für morgen", verkündete er, "geht um Auswanderer. Haben Sie da spontan jemanden?" Ich glaube, ich sollte besser gar nicht mehr ins Bett gehen, solange die Nachrichtenlage so brisant ist.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen