die wahrheit: Das sich verselbstständigende Selbst
Loki Schmidt ist Anfang März 90 geworden, der Gatte Helmut schon im vergangenen Dezember, ein kapitales Alter, wie wir Marxisten sagen...
... Das gebietet Ehrfurcht, nicht zuletzt seitens der Medienarbeiter.
Kritik sollte auf samtenen Pfoten daher kommen, Skepsis eingebettet sein in Wohlerzogenheit. Viele Interviewer haben sich deshalb angewöhnt, Herrn Schmidt nicht mehr allein mit "Sie" anzusprechen, sondern mit "Sie selbst". Das geht etwa so: "Sie selbst sollen damals in der Nacht schwerkrank gewesen sein." Würde sich ohne das Selbst an dem Sinn der Frage auch nur ein Deut ändern? Keineswegs, das Selbst hat keinen Sinn, wohl aber steckt hinter ihm eine Absicht.
Das höfliche Sie erscheint dem Interviewer zu dünn, zu blass für einen so wichtigen Mann wie Helmut Schmidt. Das Selbst soll das einsilbige Sie und damit Befragten wie Frager aufwerten. Semantisch ist das Selbst überflüssig, ein weißer Schimmel, ziemlicher Quatsch also. Es sei denn, Herr Schmidt besitzt neben dem uns bekannten Ich ein weiteres, das beispielweise in Vollmondnächten zum Vorschein kommt, und er ist sich dessen bewusst. Dann wäre es notwendig, das im Interview anwesende Ich durch das Selbst zu präzisieren und von dem anderen, nicht anwesenden Ich abzugrenzen.
Ein Beispiel, in dem dies sinnvoll erscheint: "Sie selbst, Dr. Jekill, haben behauptet, der Mensch sei zum Guten wie zum Bösen fähig." Das Selbst leistet hier die Abgrenzung des Dr. Jekill zum zweiten, im Interview nicht anwesenden Ich, nämlich Mr. Hyde. Doch dem im zehnten Jahrzehnt seine Lebens angekommenen Altkanzler Schmidt eine gespaltene Persönlichkeit zu unterstellen, ist alles andere als wohlerzogen.
Dabei möchte der Interviewer doch nur die Wichtigkeit des Gesprächspartners unterstreichen, wie seine eigene, und gerät auf dem schmalen Grat zwischen Respekt und Schleimerei ins Rutschen. Das sei ihm vergeben.
Keine Vergebung aber soll für das pleonastische, sich verselbstständigende Selbst gewährt werden, das nicht an eine verdiente Persönlichkeit geknüpft ist, sondern an den Sprecher, der "ich selbst" sagt. Das sagt heute beinahe jeder Prominente beinahe jedem Interview. Nie sagt es mehr aus, als das pure Ich aussagen würde.
Wer "Sie selbst" zu seinem Gesprächspartner sagt, kriecht vor diesem, wohin kriecht aber derjenige, der "ich selbst" sagt? In den eigenen Arsch? Dazu bräuchte er zwei Persönlichkeiten, eine kriechende und eine bekrochene. Dann wäre das Selbst wiederum berechtigt, dann wäre es gar kein Kriechen. Doch der notorische Ich-Selbst-Sager ist nicht schizophren, er ist nur ein Narziss. Sein Motiv ist Wichtigtuerei, verbunden mit sprachlicher Schlampigkeit. Das Selbst hinter dem Ich soll seine vermeintliche Wichtigkeit unterstreichen: "Nicht irgendein Charge in meinem Namen, auch nicht mein persönlicher Assistent, Agent oder Produzent, nein, ich selbst, höchstpersönlich, habe gesprochen. Hugh! Seien sie stolz darauf, diese Information von mir selbst zu erhalten, sie Würstchen von der Presse."
Ich selbst habe diese Gedanken hinter dem nichts sagenden Gesülze so mancher Wichtigtuer und -innen entziffert.
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