die wahrheit: Matratzenmantra
Es war kalt, eisig kalt, und auf dem Markt herrschte eine tiefgefrorene Polarnachtstille...
... Die Händler standen schockgefrostet zwischen ihren Äpfel- und Kohlpyramiden, die Marktgänger drängten sich wie Pinguine aneinander, und niemand sprach ein Wort. Auf einmal aber vernahm ich einen eigenartigen Singsang, eine Beschwörungsformel, die sich unablässig wiederholte, gesprochen von einer Stimme, die mir bekannt vorkam, und als ich wusste, zu wem sie gehörte, stand Raimund auch schon vor mir und sagte: "Matratze nicht vergessen!"
"Hey, Raimund!", grinste ich: "Was soll das bedeuten?" - "Oh! (Matratze nicht vergessen!) Hallo!", erwiderte er: "Was soll was bedeuten?" - "Na, dieses Matratzenmantra." - "Matratzenmantra? (Matratze nicht vergessen!)" - "Was du unaufhörlich vor dich hin brabbelst!" - "Was? (Matratze nicht vergessen!) Oha, tatsächlich! Das ist ja ein Ding!" - "Also", sagte ich, "was ist los mit deiner Matratze? Hast du sie vielleicht rausgestellt?" - "Hm. (Matratze nicht vergessen!)" - "Zum Lüften?" - "Hm. (Matratze nicht vergessen!)" - "Auf den Balkon?" - "Hm. (Mat … -) Aaah!!!" Sein Schrei war so laut, dass mir fast die glashart gefrorenen Ohren in tausend kleine Scherben zersprangen. Dann rief er: ",Katze'! Es heißt nicht ,Matratze'! Es heißt: ,Katze nicht vergessen'! Ich bin ein toter Mann!" - und mit diesen Worten rannte er in Richtung Adalbertstraße los.
Mir war an seinem Hinscheiden nichts gelegen, denn Freunde von seiner Güte findet man nicht oft, und deshalb setzte ich ihm nach. An der Ecke zur Raabestraße hatte ich ihn eingeholt. "Was ist denn los?", schnaufte ich: "Um welche Katze geht es?" - "Es geht", keuchte er, "um Emmy, the bloody lady!" - "Auweia!", ächzte ich, denn Emmy war die Katze unserer Freundin Charlotte, und den Beinamen "the bloody lady" hatten wir ihr verpasst, da sie sich bei allen Besuchern zunächst wie eine brave, schnurrende Mieze einzuschmeicheln pflegte, um sich alsdann, sobald man ihr arglos den Kopf kraulte, in eine entfesselte Furie zu verwandeln und einem die Haut möglichst großflächig in Filetstreifen zu zerschlitzen. Trotzdem hatte Raimund sich dazu breitschlagen lassen, während Charlottes Winterurlaub Emmy zu füttern und die Blumen zu gießen. "Ich hatte Emmy auf den Balkon gesperrt, um beim Blumengießen nicht in akuter Lebensgefahr zu schweben", japste er: ",Katze nicht vergessen! Katze nicht vergessen!' sagte ich immer wieder zu mir. Anscheinend aber hab ich mich damit irgendwie selbst hypnotisiert. Jedenfalls sitzt Emmy immer noch draußen!" Und wenn sie in der Zwischenzeit erfroren war, dann, da hatte er sicher recht, würde Charlotte nach ihrer Rückkehr auch seinen Aufenthalt im Diesseits ohne lange zu fackeln beenden.
"Uff!", machte er daher erleichtert, als wir hinter der Balkontür eine frierende und puschelartig aufgeplusterte Katze erblickten. Zugleich aber sah ich in ihren Augen die reine Mordlust aufblitzen, und weil nunmehr klar war, dass Raimund nur noch die Wahl hatte, sich von Charlotte oder Emmy den Lebensfaden abknipsen zu lassen, zog ich mich diskret aus der Wohnung zurück - denn es gibt Entscheidungen, die ein Mann alleine treffen muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!