die wahrheit: Beim Welterbauer
Meine neue Brieffreundin hatte mich eingeladen, bei ihr zu leben, damit sich unsere Korrespondenz künftig zeit- und kostensparender gestaltete...
Meine neue Brieffreundin hatte mich eingeladen, bei ihr zu leben, damit sich unsere Korrespondenz künftig zeit- und kostensparender gestaltete. Sie holte mich vom Bahnhof ab und konnte es kaum erwarten, mich nach Hause mitzunehmen. Ich fragte sie, wo sie denn wohne. "Beim Welterbauer", sagte sie, "das ist ein Mann, der Welten erbaut oder errichtet, je nachdem. Ich glaube, es ist seine verbriefte Aufgabe im Schöpfungsplan. Da kann man nichts machen. Seine Welten interessieren mich eigentlich einen Dreck."
Und wie wir so dastanden, uns gegenseitig festhielten und das Obige sprachen, näherte sich ein Motorengeräusch. "Der 622er Bus!", kreischte meine neue Brieffreundin auf Verdacht. Im allernächsten Moment aber zeigte sich, dass sich zwar in der Tat ein Fahrzeug näherte, jedoch kein Linienbus, sondern ein Lautsprecherwagen. Aus dem Lautsprecher tönte es dröhnend: "Hallo, hallo, wir können noch nichts Genaues sagen, daher sagen wir jetzt erst einmal nichts."
Eine Stunde später erreichten wir das Haus, in dem meine Brieffreundin wohnte. "Wo ist er denn, der Welterbauer?", fragte ich beim Eintreten. "In seiner Werkstatt", antwortete sie, "er errichtet wieder irgendeine Welt." Tatsächlich war aus einem der Zimmer eine sonore Stimme zu vernehmen: "Es wird! Eine kleine Welt ohne Fehl! Ohne …" Dann gab es einen lauten Knall, und dieselbe Stimme schimpfte: "Scheiße, das war wieder nichts. Jetzt muss ich mir die Hände waschen." Eine Tür öffnete sich, und ein großer, dicker Mann mit Hut trat heraus. Leicht betrunken wirkend, wunderte er sich: "Nanu? Besuch?" Ich grüßte höflich und stellte mich vor. "So, Sie sind also die sagenhafte neue Brieffreundin meiner Kleinen? Haben Sie vielleicht eine interessante Krankheit?", meinte er. Ehe ich etwas erwidern konnte, begann er: "Ich beschäftige mich viel mit dem Errichten von Welten, nebenbei bemerkt, einem recht interessanten Spezialgebiet. Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, eine Welt zu errichten?" - "Eher nicht …" - "Für den Fall, dass Sie es doch einmal probieren wollen, rate ich Ihnen, mit ganz einfachen Welten anzufangen. Komplizierte Welten haben viele Nachteile. Anfänger sind gut beraten, ihre ersten Welten auf höchstens drei oder vier Bestandteile zu reduzieren. Nur zum Vergleich: In der Welt, in der wir momentan weilen, gibt es mehr als elf. Was für eine Verschwendung! Ich kann Ihnen einiges über Welten und deren Errichtung verraten!"
Mutig wandte ich ein: "Aber Sie scheinen, mit Verlaub, nicht ganz nüchtern zu sein. Ist es denn ratsam, in betrunkenem Zustand Welten zu errichten?" Diesen schwachen Einwand wischte er sogleich fort: "Die Trunkenheit bildet das Fundament meines Tuns, sie ist die erste Notwendigkeit für ernste Arbeit. Jeder Welterbauer schenkt ihr die peinlichste Sorgfalt."
Ich blieb dann einige Jahre dort, trank viel und erlernte das Weltenerbauen doch nicht. Wenn ich so zurückdenke, frage ich mich, ob ich seit jenem ersten Tag meine Brieffreundin überhaupt noch einmal wiedergesehen habe. Dummerweise kann ich mich einfach nicht erinnern.
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