die wahrheit: Toxische Positionen
Mediziner und Biologen diskutieren momentan wieder, ob sich dieses oder jenes Virus zur Pandemie auswachsen könnte. Pandemien sind Seuchen, die...
... sich über ganze Länder verbreiten. Für die Sprache ist das keine Frage mehr. Wörter breiten sich schneller aus als Seuchen. Noch bis Ende der 70er-Jahre verabschiedeten sich nur Italiener und Schweizer - und zwar solche, die sich duzten - sowie Schauspieler in Rainer Werner Fassbinders Filmen mit "Ciao" bzw. "Tschau". Heute verwendet dieses Wort jede Friseurin, wenn sie einer Kundin, die ihre Großmutter sein könnte, auf Wiedersehen sagt. Das ist eine der harmloseren Seuchen.
Entschieden toxischer - dieses Wort muss man nicht mehr erklären, seit der kapitalistische Betrieb wegen halbkrimineller Machenschaften ins Trudeln gekommen ist - ist die "Positions"-Seuche. Man kann keine Besprechung einer Kunstausstellung und keine Pressetexte von Museen mehr lesen, in denen nicht "Positionen vertreten" werden und sich Künstler "positionieren". Jüngst kamen kurz nacheinander zwei Pressetexte aus zwei verschiedenen Museen. Der eine kündigte eine "Vortragsreihe Positionen" an, der andere teilte mit, demnächst würden "musikalische Positionen aus dem weiten Feld der europäischen free music vorgestellt". Die "Positions"-Seuche ist ein Produkt des kerndeutschen Kunstbetriebs - andere westeuropäische Sprachen kennen das Wort in dieser Verwendung nicht oder nur in philosophisch anspruchsvoller Bedeutung wie in Jacques Derridas "Positions" (1972).
Früher vertraten Künstler Stilrichtungen oder Schulen oder sie gruppierten sich nach Techniken, die man nach inhaltlichen und/oder formalen Kriterien - also qualitativ bestimmend - unterschied: "Leipziger Schule", "arte povera", "neue Wilde" etc. Über solche Etiketten konnte man streiten, aber sie hatten wenigstens einen - wenn auch oft problematischen - Restinhalt.
"Positionen" dagegen sind inhalts-, aber nur scheinbar wertneutral. Wenn von einer musikalischen oder malerischen "Position" die Rede ist, wird buchstäblich nichts mitgeteilt außer dem öden Faktum, dass jemand irgendetwas spielt, malt, zeichnet oder filmt. "Positionen" gibt es so viele, wie es Künstler gibt, denn jeder darf sich "positionieren". Mit der einfältigen Charakterisierung als "Position" entziehen sich Kunstkritiker der intellektuellen Anstrengung, die Werke eines Künstlers in eine Stilrichtung, einen Schulzusammenhang oder einen anderen ästhetisch relevanten Kontext zu stellen. Kurzum - sie entziehen sich der Aufgabe, etwas Bestimmtes zu sagen, und verwenden lieber die Leerformel "Position". Die Leerformel "Position" kündigt Leersätze an: "Die Ausstellung setzt einen Programmschwerpunkt fort mit aktuellen zeitgenössischen künstlerischen Positionen." Und die Leersätze bündeln sich zu Katalogbeiträgen aus Positionen-Gelaber. Je öfters und je prominenter der Betrieb ein Werk zur "Position" adelt, desto schneller wird das Werk zur marktgängigen "Position" - zum ökonomischen Wert mit Preisschild.
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