die wahrheit: Vom Mensch zur Tonne
Die Dinge sprechen zu uns, in Hamburg zum Beispiel die Abfallbehälter. Allein auf dem kurzen Weg von der Stammkneipe zum Friseur quatschen mich die feuerwehrroten Tonnen zwanzigmal dreist an...
... "Gib mir den Rest", "Ich bin für jeden Dreck zu haben", "Lass uns schmutzige Dinge tun". So viel Geschwätzigkeit nervt, auch wenn ab und an ein passabler Kalauer dabei ist, wie: "Geben Sie den Kot ein".
Selbstverständlich wurden die pseudowitzigen Sprüche von Werbetextern erfunden und im Auftrag der Stadtreinigung als Sprechblasen auf die roten Tonnen gepinselt. Deshalb geben sie auch nicht das wieder, was die Tonnen wirklich zu sagen haben, denn ein Werbetexter weiß nichts von den Dingen. Würde ein Ikea-Muster-Hocker, der Gutvik oder so heißt, wirklich sagen: "Ich möchte gerne hier bleiben"? Nie und nimmer. Eher würde er uns anflehen: "Nimm mich mit, ich ertrage die vielen Ärsche nicht mehr".
Was die Dinge uns wirklich sagen, kann nun mal nicht jeder hören, Werbetexter am allerwenigsten, weil sie permanent selber quasseln. Doch es gibt Menschen mit der Gabe, die Dinge zu hören. Einige wenige sprechen sogar die Sprache der Dinge, Auserwählte, erwählt von einer Instanz, zu der Werbetexer und gewöhnliche Menschen keine Verbindung haben.
Ein Auserwählter ist jener kleine, rundliche Herr undefinierbaren Alters mit dem gelben Rauschebart, der seine Tage ohne erkennbare Aufgabe auf dem Platz zwischen dem Hamburger Hauptbahnhof und dem Schauspielhaus verbringt und dabei das eine oder andere Schwätzchen mit einem Abfallbehälter hält. Stets ist er höflich, er respektiert die Konventionen zwischenmenschlicher Kommunikation auch für den Umgang mit den Dingen. Nie habe ich einen Übergriff des gelbbärtigen Herren gesehen, etwa dergestalt, dass er einem der Behälter den schmackhaften Rest eines Lebensmittels entwendet hätte. Bis auf jenen Mittwoch im Juni, an dem er die Contenance verlor.
An diesem Tag zog eine gewaltige Horde junger Menschen vorbei, die entsetzlich lärmten und tobten, um auf Ungerechtigkeiten an Schulen und Universitäten hinzuweisen. Sie taten dies derart vehement, dass einem Menschen, der es gewohnt ist, sich mit eher stillen Dingen zu unterhalten, unbehaglich zumute werden musste. So erhob der Gelbbärtige seine Stimme, um trotz des rumorenden Mobs weiterhin Gehör bei dem Abfallbehälter zu finden, mit dem er just plauderte. Mehr und mehr Röte stieg in sein Gesicht und ließ seinen Bart noch gelber leuchten, dann begann er, seine Worte mit wilden, drohenden Gebärden zu untermauern. Auf die Worte, mit denen er schließlich den Behälter anbrüllte, hätte ein Mensch wohl mit einer Beleidigungsklage oder einer Ohrfeige reagiert. Seine Tiraden arteten schließlich in Obszönitäten aus, die selbst Menschen mit Tourette-Syndrom die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Unbändige Wut und zotige Urgewalt prasselten derart auf die arme Tonne ein, dass sie mir fast leidtat. Erst ein Blick auf die Sprechblase beruhigte mich: "Ich kann ne Menge einstecken".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!