die wahrheit: Sofortige Stilllegung
Bis zu 30 Prozent der Bundesbürger sind nach Expertenmeinung überflüssig und müssen ausrangiert werden. Unabhängige Experten schlagen Alarm. Sie greinen und barmen...
...und wollen sich nicht trösten lassen, schließlich werden sie dafür bezahlt. "Ach!" und "Weh!" wird allenthalben gerufen, und die Sorge um dieses unser Deutschland gräbt fiese Furchen in breiige Gesichter, bis Gesine Nötzsch eingreift und ihre Forschungsgruppe mit scharfem Pfiff zurück an die Rechner schickt.
"Untersuchungen haben ergeben: Bis zu 30 Prozent der Bundesbürger sind nicht systemrelevant", spricht die graubezwirnte Business-Hetäre, "wir haben in vielen Bereichen gewaltige Überkapazitäten feststellen müssen." Und dann schaut sie einen so an: Ihr inquisitorischer Blick saugt sich zum quod erat demonstrandum an der Überkapazität meiner Leibesmitte fest. Dort, wo all die Schnitzel wohnen und die vergeigten Abende in lauer Runde.
"In Zeiten der Krise muss alles auf den Prüfstand", insistiert Nötzsch, strafft den ranken Leib lotrecht und blickt weiter diesen Blick. "Ich habe nichts getan", versuche ich verteidigungsschwach, doch mittlerweile ebenfalls um Haltung bemüht, den Balg einzuziehen, so gut es halt noch geht, nach innen zum Gedärm gezwängt.
"Eben!", bricht es aus der weisungsgemäß so zu bezeichnenden Powerfrau heraus, und die Mitarbeiter an den Rechnern nicken. "Er hat nichts getan …", raunen sie sich missbilligend zu. Ich sacke in mich zusammen, überwältigt von der Überkapazität meines eigenen Seins, das nicht soll, wie es ist. Und zwar wegen der mutmaßlich fehlenden Relevanz, der systemischen.
Nötzsch, die einer Denkfabrik für Leichtbauteile in Sindelfingen vorsteht, fordert deswegen die bundesweite Überprüfung und Nachjustierung aller Bürger, die von den Krankenkassen, Schulen und karitativen Einrichtungen vorgenommen werden soll. Besonders im Kinder- und Jugendbereich sieht sie Handlungsbedarf.
"Das heißt aber nicht, dass defizitäre Kinder sofort stillgelegt werden müssen. Sie können unter Vorläufigkeitsvorbehalt von den Eltern als Liebhaberei weiterbetrieben werden. Jedenfalls für eine Übergangszeit", meint die geborene Chefin.
Mittels eines komplexen Systems, welches die Nötzsch nun in verschiedenfarbigen Leuchtbildern über die Wand irrlichtern lässt, soll der Bürger eigene Defizite und Guthaben errechnen, zwischen Wahl- und Pflichtrelevanz unterscheiden, sein Guthaben im Internet versteigern oder benötigte Relevanz dazukaufen können. Ein Werk, so recht aus dem Geist von Oberstufenreform und Emissionshandel.
Ich bekäme, errechnet Nötzsch, den gesetzlich zu verbriefenden Sockelbetrag sowie eine Akademikerpauschale, müsste aber Abzüge wegen fortgesetzter Konsumfaulheit, Orientierungslosigkeit und grober Unregelmäßigkeiten der Lebensführung hinnehmen und landete summa summarum auf null.
Das heiße noch gar nichts, spricht die Nötzsch mir Mut zu, es gehe hier durchaus und nicht zu knapp auch um geistige Werte, weswegen man flugs meine kulturelle Relevanz würde errechnen lassen - die könne einiges rausreißen, so die enthusiasmierte Gesellschaftspflegerin, könne man doch lebensweltlich nach Herzenslust herumludern, wenn man nur berufskulturell hübsch im Plus bleibe. Das sehe man ja am Grass, ihrethalben.
Zur Ermittlung kultureller Relevanz wird die Anzahl künstlerischer Werke mit der Menge ihrer Rezipienten multipliziert und durch die Gesamtanzahl aller Kulturschaffender geteilt, der Quotient schließlich als Gesprächsthema zu einer Dinnerparty vorgeladen, zu der Vertreter aller gesellschaftlich relevanten Gruppierungen gebeten würden. Nach dieser Methode wähle auch das Feuilleton seine Themen aus, sagt die Nötzsch und ihre Miene verfinstert sich.
Ich sei - und persönlich tue ihr das leid, aber man habe das Gemeinwohl zu achten - in jeglicher Hinsicht als irrelevant berechnet worden, eine sofortige Stilllegung empfehle sich da fast zwangsläufig, "Kann man denn gar nichts tun?", bange ich, doch die Mitarbeiterschar wispert, über ihre Rechner gebuckelt, ein grauses Echo: "Man kann gar nichts tun." Nun, das wenigstens liegt mir, und also tue ich wie geheißen, während die Forschungsgruppe zustimmend bis hämisch heult.
Die mit allen Wassern gewaschene Systempraktikerin Gesine Nötzsch empfiehlt mir zwar, da mich jetzt kräftige Arme packen und hinaustragen, zwecks Hebung meiner Systemrelevanz bis nächsten Mittwoch einige hundert Arbeitsplätze zu schaffen, ich aber glaube, ich werde lieber still liegen bleiben.
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