die wahrheit: Volle Schmatzkammern
Im Land des süßsauren Lächelns.
Jeder kennt das Land der aufgehenden Sonne, der durchnummerierten Speisekarten und der zerbrochenen Ming-Vasen. Doch das alte, das echte Chinesien, das legendäre "Reich der Gitte" (Lothar Matthäus), das Land voller Gegensätze und leerer Versprechungen, ist weitgehend unbekannt. Auf einer kleinen Rundreise möchten wir Ihnen eine kleine Auswahl seiner verborgenen Schätze näherbringen.
Erste Station ist das beschauliche Provinzstädtchen Kaoguang, Heimat der revolutionären Peking-Oper. Entstanden während der Kulturrevolution hier so wegweisende Werke wie "Kampflied von Datjing" oder "Unsterblicher Held Yang Ken-Sze", schreitet das Ensemble des Opernhauses Nr. 4 heute triumphierend bei der Inszenierung zeitgenössischer Stoffe voran. "Das Mädchen aus der Immoblase", ein anrührendes Spekulanten-Melodram um den tragischen Niedergang einer Schanghaier Immobilienmaklerin, rührte das zahlreich erschienene Publikum über Monate hinweg zu Tränen. Aber nicht alle Liebhaber der Peking-Oper können sich mit derlei weinerlicher Kost anfreunden. Sie trauern wehmütig den Zeiten nach, als noch Wang Djin-hsi, der "Eiserne Mann" genannt, und seine Kampfgefährten auf der Bühne mit schriller Stimme die Parole ausgaben: "Vorwärts, wenn die Bedingungen gegeben sind! Wenn nicht, schaffen wir sie uns!" Um dann ungeachtet der Gefahr ins Schlammbecken zu springen und darin herumzurühren, um so einen schweren Sondenausbruch zu verhindern.
Reisen wir weiter in die kleine Stadt Mohö im Norden Chinesiens. Das Klima ist rau, der Winter dauert acht Monate, der Sommer ist kaum der Rede wert - und doch genießt die schwefeldampfgesättigte Luft des berühmten Kurortes am Heilungkiang-Fluss einen ausgezeichneten Ruf bei Menschen mit Atemwegserkrankungen. Die allerorts aufgestellten Spucknäpfe legen davon beredt Zeugnis ab. Eine Besonderheit von Mohö sind die traditionellen Wohnhäuser aus getrocknetem Stockfisch, denen das beschauliche Städtchen den Beinamen "Oslo des Ostens" verdankt. In den letzten Jahren ist der örtlichen Bevölkerung auch der Anbau von Reis gelungen. Mohö ist damit die nördlichste reisproduzierende Gemeinde des Landes. Ansonsten gibt es aus Mohö nichts weiter zu berichten.
Ganz anders der Bezirk Hsiangtan der Provinz Hunan, der landesweit für seine kulinarischen Produkte bekannt ist. Dies gilt insbesondere für die herausragende Fleischqualität der Hundemastanstalt "Goldener Retriever". Im weiteren Umkreis haben sich etliche Spezialitätenrestaurants angesiedelt, die für ihre leckeren Gerichte wie Peking-Pudel, Chow-Chow süßsauer oder Retriever-Pfanne nach Art der Erdölarbeiter landesweit bekannt sind. Doch so mancher wendet sich schon beim Geruch ab: "Meinem Mann wird schlecht, wenn er nur Hund riecht. Er tut sich immer ein bisschen Chili oder was anderes auf die Speise, um den Geschmack zu verändern", sagt die 64-jährige frühere Textilarbeiterin Wang Li, die auf die gesundheitsfördernde Wirkung von Hundefleisch schwört. Als ihr Vater vor ein paar Jahren krank im Hospital lag, kaufte sie ihm jeden Tag luftgetrockneten Hundeschinken zur Stärkung, damit er schnell wieder auf die Beine komme. Früher, als es im kommunistischen China kaum Speisehunde gab, so berichtet die 64-Jährige, sei das rare Fleisch nur mit besonderer Genehmigung an Alte, Kranke oder kleine Kinder zugeteilt worden. "Pudelfleisch konnte sich niemand leisten. Es war so teuer, weil es nichts gab."
Beschließen wir unsere kleine Rundreise durch das Land des süßsauren Lächelns mit einem Besuch in der Provinz Schantung. Seit der Großen Proletarischen Kulturrevolution ist es den armen Bauern und unteren Mittelbauern gelungen, die Weisung des Vorsitzenden Mao "Mit dem Glutamat als Hauptkettenglied eine allseitige Entwicklung gewährleisten" vorbildlich umzusetzen und die Glutamat-Produktion stetig zu steigern. Heute gilt die Provinz als Glutamat-Schatzkammer des Landes - der beliebte Geschmacksverstärker ist aus dem Tagesablauf der Bevölkerung nicht mehr wegzudenken. Er wird nicht nur zum Kochen verwendet, sondern auch geraucht, geschnupft oder intravenös verabreicht. Nicht wenige Schantunger sind mittlerweile Glutis, glutamatabhängige Drogenwracks, die in ihren verdunkelten Gluti-Höhlen abhängen und zu kaum einer gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeit mehr zu gebrauchen sind. Dies sind bedauerliche Schattenseiten des Fortschritts, die das überwiegend positive Bild Chinesiens jedoch kaum trüben können.
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