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die wahrheit"Bonjour, bonjour "

Auch auf kurzen Strecken begrüßt der "Chef des Bordteams" seine Gäste. Jetzt kann die Bahn auch noch Französisch.

Früher, vor dem Geschenk der Wiedervereinigung des deutschen Schienennetzes, konnte man bei der Deutschen Reichsbahn unbehelligt Zug fahren. Ganz ohne Lautsprecherdurchsagen. Keiner störte. Wozu auch? Bordtelefone, auf die hingewiesen werden musste, gab es nicht, das Aufspüren des Mitropa-Abteils auf eigene Faust machte sogar Spaß, vor allem dann, wenn der Zug gar keines hatte, und wohin die Fahrt ging, wusste man selbst.

Notfalls fragte man einen Mitreisenden oder ließ es halt drauf ankommen. Da blieb die Reichsbahn eisern: Eher wurde man von einem Indianerstamm unter Führung von Gojko Mitic, dem Pierre Brice des Ostens, überfallen, als dass der nächste Bahnhof angekündigt worden wäre. Ungestört konnte man sich dem Reisen hingeben, einer Verrichtung, die ihrem Wesen nach ernst genommen werden will wie eine Andacht.

Bei der es nicht darum geht, entertaint zu werden, sondern einen Ortswechsel vorzunehmen, für den es übergeordnete Gründe gibt. Schweigend saß man sich gegenüber, Tag um Tag, und dass man Nowosibirsk erreicht hatte, sagte einem niemand. Dass die Frauen mit den Hühnern alle ausstiegen, musste als Hinweis genügen.

Heute dagegen? Selbst im hässlichsten Regionalzug begrüßt einen das "Lok- und Zugpersonal", wünscht Menschen, die für genau zwölf Minuten mitfahren, eine angenehme Reise, ruft selbst jenen, die zur Arbeit müssen, "angenehmen Aufenthalt!" hinterher und weist auf "die folgenden Anschlussmöglichkeiten" hin. So könnte man etwa um "ölf Uhr fümpf" nach Zürich fahren, und zwar "aus Gleis sechs". Aus Gleis sechs! Die meisten Reisenden dürften Wert darauf legen, dass der von ihnen benutzte Zug möglichst nicht aus dem Gleis herausfährt, sondern hübsch darin bleibt; anderenfalls erwiese sich die Zielangabe Zürich als leeres Versprechen.

Noch mehr Service gibt es in den ICE, dem hochpreisigen Premiumprodukt der Deutschen Bahn, die so gern so etwas wie eine Fluggesellschaft wäre oder sich wenigstens so nennen würde, Deutsche Erdhansa zum Beispiel oder Earth Berlin. Gelegentlich fährt man dann in einem ICE nach Hannover, der Vicky Leandros der deutschen Großstädte: Jeder kennt sie, aber keiner würde zugeben, dass er schon mal etwas von ihr gehört hat. Von Berlin nach Vicky … - pardon, Hannover sind es keine zwei Stunden. Der Wagen ist mit Lautsprechern vollgepackt. Der "Chef des Bordteams" begrüßt uns. Verweist auf das Bordtelefon.

Die Mitropa, in der man nicht nur leckere Snacks und gekühlte Getränke bereit hält, sondern auch als Tagesempfehlung Grünkohl mit Kasseler, und das zu einem Preis, für den man die gesamte norddeutsche Grünkohlernte aufkaufen könnte. Nächster planmäßiger Halt ist da und dort, es bestehen folgende Anschlussmöglichkeiten, unter anderem an einen ICE nach Berlin.

Näheres ist dem ausliegenden Faltblatt "Ihr Fahrplaner", der führenden Spezialzeitschrift mit Fachtexten zu Ankunftszeiten und Zugnummern, zu entnehmen, Rhabarber, Rhabarber … Als alles gesagt ist, taucht am Horizont bereits die, nun ja: Silhouette von mutmaßlich Stendal auf.

Nun gut. Eine Service-Offensive der Bahn vielleicht. Nachwehen der Fußball-WM oder gar der Expo. Durchatmen. Wenigstens noch ein paar Minuten Ruhe, bis dann in Wolfsburg die zugestiegenen Fahrgäste auf der Fahrt nach Hannover begrüßt werden müssen. Doch was ist das? "Dear ladies and gentleman, welcome on board?" - das ganze Zeugs noch mal. In bestem Pankower Englisch.

Dann endlich Wolfsburg. Paar Leute raus, paar rein. Dann weiter. "Wir begrüßen …". Erst Deutsch, dann Englisch. Und anschließend - es ist nicht auszuhalten, aber wahr - mit stolzgeschwellter Stimme: "Bonjour, Mesdames et Messieurs …" Tatsächlich: eine Begrüßung in französischer Sprache! Auf der Fahrt nach Hannover! Das ganze Programm, inklusive Hinweis auf den Grünkohl. Erst kurz vor Hannover dann endlich, endlich Ruhe.

Wenn die Kirchen ein Volksbegehren für die Einrichtung eines "Abteils der Stille" in den ICE initiierten - tausende Unterschriften wären ihnen sofort sicher.

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5 Kommentare

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  • U
    Uwe

    Ähnlich anstrengend verhält es sich bei den Leipziger Verkehrsbetrieben: Rohschenereh Gahrprinzipal murmeln manche Fahrgäste da gegen halb Sieben in der Straßenbahn schon mit, wenn sich der Hauptbahnhof ankündigt. Gottseidank ist die Stimme aber eine importierte Hochdeutsche...

  • F
    felyx

    Vielen Dank für die Deutsche Erdhansa und Earth Berlin. Großartig!!

  • JV
    Justus von Widekind

    "Sankt Endal" (statt Stendal) hätte doch prima hierher gepasst - und wurde tatsächlich auch schon angesagt, wie Friedrich Dieckmann schon im letzten Jahrtausend in der ZEIT berichtete.

  • UR
    Ulrich Rothe

    Das Volksbegehren für die Einrichtung von Bahnabteilen der Stille hätte meine Stimme.

  • S
    simon

    ich krieg immer so bock auf bregenwurst, wenn ich grünkohl höre...da könnt die bahn noch an sich arbeiten.