die wahrheit: Invasion der Hinrenner
Jetzt wird in Berlin auch noch Neukölln unbewohnbar.
Kaum ein Landstrich in Deutschland hat so viele Probleme wie der Berliner Bezirk Neukölln: hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bildung, eine große Zahl jugendlicher Schulabbrecher - soziale Verwahrlosung ganzer Straßenzüge. Und wenn gerade mal niemand auf offener Straße erschossen wird, beklagt Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky die mangelnden Umgangsformen in seinem Viertel.
Wie neulich im taz-Interview, als er erklärte, dass er es unschön finde, wenn seine Frau nach Hause komme und erzähle, dass sie mal wieder an zwei roten Ampeln Angebote zur Fortpflanzung erhalten habe.
Neukölln ist also gebeutelt und geschunden genug, doch als ob Arbeitslosigkeit, Armut und verbale Ausfälle nicht genügten, droht seit einiger Zeit neues Ungemach: Der Problem- wird zum Partykiez. Mit wachsendem Tempo mutiert Neukölln zum Vergnügungsviertel für Jungakademiker, Feiertouristen und alle sonstigen Arten von Hinrennern.
Inzwischen hat sich wohl auch bis zum letzten Hinterwäldler herumgesprochen, dass das Viertel der kommende Szenebezirk ist - dass da was geht. Oder, um es in der Sprache der jugendlichen Bewohner des Viertels zu sagen: "Jetzt wird Neukölln richtig gefickt."
Denn mit den Szenebezirken verhält es sich in Berlin wie mit dem Raubbau: Wenn eine Gegend erschlossen und ausgenommen ist, zieht die Karawane der Künstler und Kreativen weiter, bis auch der nächste Kiez mit Cafés, Clubs, Kneipen und Hostels planiert ist und statt Einheimischer nur noch Prolls und Touristen kommen. Nach Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain wird nun also der nächste Berliner Stadtteil unbewohnbar gemacht.
Vor allem im - wegen seiner Nähe zu Kreuzberg - Kreuzkölln genannten hippen Norden des Bezirks schießen Bars und Kneipen aus dem Boden wie Pilze, die in dieser Gegend bis dato nur die feuchten Fassaden der Häuser bedeckten. Wohnzimmerartige Wirtshäuser mit Namen wie Ringo und Kinski, in denen Designer, Musiker und Studenten auf Sofas und an Couchtischen lümmeln und einen Schund zusammenreden, dass einem die Ohren schlackern.
Jedes Wochenende zieht der Zug der Partylemminge von Kneipe zu Kneipe, wo er sich Tannenzäpfle und Bionade durch die erlebnisdurstigen Kehlen rinnen lässt - mitunter auch Astra oder Sternburg Pils, diese Alkohol gewordenen Symbole für Prekariat und Proletentum. Schließlich ist man hier in Neukölln.
Aber nicht nur in eigenen Feierdomizilen wird sich vergnügt. Bei der Partyreihe "arm & sexy" fallen die Feierwütigen einmal im Monat in eine der alteingesessenen Eckkneipen ein, deren Namen auf -Eck oder -Stube enden und wo es Schultheiss und Engelhardt gibt statt Tannenzäpfle und Becks, um den irritierten Stammgästen das Letzte zu nehmen, was sie haben: einen Rückzugsort zum ungestörten Ertränken der Sorgen.
Letztjähriger Höhepunkt des Prekariats-Tourismus war eine Party im Jugendclub der Rütli-Schule. Schwer zu sagen, was zombiehafter war: die von Jugendlichen aus Pappmaché gebastelten Tiere, die von der Decke hingen, oder die zur Technomusik zuckenden Leiber der Partygäste darunter.
"Multikulti ist gescheitert", möchte man fast mit Bezirksboss Buschkowsky rufen, angesichts all der integrationsunwilligen Zugereisten aus Restdeutschland, Spanien und Amerika, die den Kiez nur als Kulisse für ihre Partys und ihr Palavern begreifen. Als riesigen Freizeitpark. So wie jener Zugezogene, der kürzlich in einem Lokal namens Mama lautstark erklärte, Neukölln sei schon super - aber ein bisschen prenzlauerbergmäßiger dürfe es ruhig sein. Als ob ein Prenzlauer Berg nicht genügen würde.
Heinz "Buschi" Buschkowsky selbst, eigentlich nie um einen lautsprecherischen Verweis auf die Not seines Bezirks verlegen, wird sich dereinst noch zurücksehnen nach den Zeiten, als die Mieten in seinem Viertel bezahlbar waren und alteingesessene Neuköllner nicht unter Artenschutz standen - spätestens wenn die Neu-Neuköllner dem SPD-Mann den Laufpass gegeben und einen Grünen zum Chef des einstigen Arbeiterbezirks gemacht haben.
Aufzuhalten wird dies wohl nicht mehr sein. Auf einer Party sagte kürzlich eine aus Köln stammende junge Frau, dass sie jetzt seit drei Jahren in Friedrichshain wohne, demnächst aber nach Neukölln ziehen wolle. Das sei spannender. Wie langweilig muss ein Leben eigentlich sein, wenn man es spannend findet, in wohnzimmerartigen Cafés Tannenzäpfle zu trinken?
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