die wahrheit: Das stumme Sterben einer schwermütigen Stadt
Abstieg, Suff und Suizid: Hannover im freien Fall. Was ist bloß los mit der einstmals so grundsoliden Zentrale des deutschen Mittelmaßes?
Jahrelang galt Hannover als solide Metropole des Mittelmaßes, als Inbegriff der Langeweile oder schlicht als Hauptstadt von Niedersachsen. Wahrnehmbar war die Stadt zuverlässig durch die immergleichen öden Berichte von der Cebit, Verkehrsstaumeldungen oder Fußballspielen im Bundesliga-Mittelfeld, die torlos endeten. In den letzten Monaten jedoch wurde der Nichthannoveraner Zeuge eines Niedergangs, der in der urbanen Geschichte beispiellos ist.
Zunächst sorgte der Selbstmord des Torhüters von Hannover 96 für Schlagzeilen. Robert Enke hatte sich vor einem herannahenden Zug geworfen und löste mit dieser Tat eine wahre Schockwelle aus. Die Medien berichteten über den Fall, als müsste die deutsche Nationalmannschaft nun auf Jahre hinweg vor einem leeren Tor spielen.
Feuilleton-, Wissens- und Sportteile regionaler und überregionaler Presseerzeugnisse waren mit dem Thema Depression überfüllt; Trainer fragten sich reihenweise, ob sie dem Leistungsdruck der Interviewer nach dem Spiel noch gewachsen sind; und Spielerfrauen lieferten Einblicke in die Schmutzwäsche ihrer Spielermänner. Psychologen erlebten einen Ansturm von Patienten, die sich nur aus Mitgefühl mit Torwart Enke wegen Depression behandeln lassen wollten.
Doch während durch die sprunghaft steigenden Verkaufsmengen von Antidepressiva und diversen Sonderausgaben der Zeitschrift Psychologie heute im ganzen Land die Konjunktur angekurbelt wurde, erlebte die Stadt Hannover den Beginn ihres raschen Abstieges.
Wochenlang kam das öffentliche Leben zum Erliegen, Trauerzüge verstopften alle Zufahrtsstraßen, sowohl der Bahn- als auch der Nahverkehr wurden aus Mitgefühl mit dem Lokführer eingestellt. Und seit Enke fehlt, geht es mit dem von 102 Prozent der Hannoveraner heiß geliebten Verein Hannover 96 steil bergab. Gefühlte 96 Trainer wurden entlassen und wieder eingestellt, und die Mannschaft kommt aus dem Tabellenkeller nicht mehr heraus.
Ob es nun an den 96ern und ihren Abstiegsnöten liegt, dass sich die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann betrank und in diesem Zustand mit dem Auto über eine rote Ampel fuhr, weiß man nicht. Es könnte auch an ihren kranken Verwandten in Afghanistan, die sie in ihren Predigten gern "Brüder und Schwestern" nannte, oder ihrer unangemeldeten Nebentätigkeit bei der Braunschweiger Tafel gelegen haben.
Die Anteilnahme der Nation am Rückzug der populären Geistlichen war ähnlich groß wie zuvor bei Robert Enke. Doch für Hannover bedeutet er lediglich, dass nun eine andere Region den Zuschlag für den EKD-Ratsvorsitz erhalten wird und die Stadt damit weiter unaufhaltsam der Bedeutungslosigkeit entgegensteuert. Wenn Hannover 96 in der nächsten Saison zweitklassig spielt, gerät die Stadt an der Leine womöglich völlig in Vergessenheit.
Die Ratten verlassen auch schon das sinkende Schiff, frei nach der Devise: Akademiker und Fachkräfte zuerst. Das Phänomen langsam sterbender Städte wurde von Soziologen eingehend untersucht. Über das, was gerade in Hannover passiert, können auch sie nur ratlos mit dem Kopf schütteln.
Die letzten Einwohner Hannovers mutmaßen indes, welches Unglück als nächstes über sie hereinbricht. Wird zur diesjährigen Cebit überhaupt noch jemand anreisen? Was, wenn auch noch dem letzten vermeintlichen Sympathieträger aus der Stadt, Christian Wulff, etwas zustößt?
Ängstlich beobachten sie jeden Schritt ihres Landesvaters, zittern mit, wenn er ein Auto besteigt, beten, dass er nichts getrunken hat, halten die Luft an, wenn er sich einem Bahnübergang nähert. Bei jeder Presseerklärung des Ministerpräsidenten Niedersachsens fürchten sie, er könne schon im nächsten Satz eine schreckliche Enthüllung machen.
Es scheint nur eines zu geben, was die Ehre der Stadt Hannover retten und ihren Untergang noch aufhalten kann: die sofortige Auflösung der Band die Scorpions, die Absage aller geplanten Tourneen und die Verbannung ihrer Tonträger aus den Verkaufsregalen dieser Erde. Und prompt haben die Altrocker ihr Ende als Band verkündet. Die Scorpions gehen in Rente, wie sie im Januar 2010 bekanntgaben. Allerdings wollen sie zuvor noch eine dreijährige Welttournee antreten. Und wenn sie dann wieder da sind, wird Hannover höchstwahrscheinlich nicht mehr existieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge