die wahrheit: Baumwollballade vom glücklichen Tod
Ich wachte am Morgen auf, schien demnach also nicht im Schlaf gestorben zu sein - was, nebenbei bemerkt, meine Lieblingstodesart wäre, aber erst etwas später im Leben …
… Ich fasse die bisherige Handlung einmal zusammen: Ich war am Morgen aufgewacht. Sonst pflegte ich nach dem Aufwachen immer zum Bahnhof hinunterzugehen, um Baumwolle zu pflücken. An diesem Morgen aber kam der Postbote bereits vor Tagesanbruch und brachte mir einen Brief. "Das kann nichts Gescheites werden, wenn ich schon um diese Zeit Post zustelle", brummte er moros. Absender des Briefs war eine Frau, die ich kannte. Verdammt! Sicher doch, das war meine Geliebte aus dem Norden - da, wo die Fleischfabriken waren! Was mochte sie mir schreiben?
Als der Schmied und ich den Umschlag endlich aufbekommen und das Briefpapier entfaltet hatten, las ich eine alarmierende Nachricht. Die Frau teilte mir behutsam aber unmissverständlich nichts Geringeres mit, als dass sie gestorben sei. Das wandelte mich vernichtend an! Alle Welt schien mir zu enden, mein Gemüt wallte auf.
"Nach mir die Tollwut!", rief ich und machte mich gleich auf den Weg. Ohne Sinn für Landschaft oder Bevölkerung schnitt ich mir meinen Weg durch den Raum der Weite. Ein heutiger Journalist verglich mich mit "Swimbad, dem Sündfahrer", an anderer Stelle hieß es "Schneefahrer". Der tief verschneite Weg war weit. Um die Reisekosten erschwingen zu können, verdingte ich mich bei einem Wander-Menagerie-Unternehmen, dessen Hauptattraktion "Der Affe, der das Nichts erfunden hat" hieß. Zum Glück handelte es sich um ein Weibchen.
Es muss eine angenehme Zeit gewesen sein, doch eines Tages musste ich weiter. Im Gehen hörte ich noch, wie der Menagerie-Direktor rief: "Ich lass mir den Pavian ausbauen!" Sein Assistent erwiderte: "Tieferlegen, oder was?" Im nächsten Moment war ich schon wieder auf der Straße unterwegs. Und es war schier unglaublich, wie unterwegs ich war! Als ich mit ihr fertig war, sah die Straße aus wie nach starkem Frost. Wenigstens brachte mich das voran. Abgesehen von einem Jahr als Hoteldirektor reiste ich ohne anzuhalten. Ich kam durch viele Bahnhöfe und pflückte überall Baumwolle. Wusste man denn, wozu es noch einmal gut sein konnte?
Endlich erreichte ich mit zahlreichen Baumwollballen das sehr abgelegene Haus der Frau, deren Todesnachricht ich empfangen hatte. So viel wusste ich noch. "Was machst du denn für Sachen?", fragte ich sie, als sie mir die Tür öffnete, und zeigte ihr den betreffenden Brief. Ihre Antwort überraschte mich: "Ich habe von dir genau die gleiche Nachricht bekommen!" Und sie bewies es mir. Da hatte uns die Post also einen Streich gespielt. "Na, so sieht man sich wenigstens mal wieder", meinte meine Geliebte. Danach lebten wir noch lange glücklich miteinander und ließen uns von einer kerngesunden, fahrbaren Katze mit allerlei Drolerien bezaubern. Nach dem Aufwachen am Morgen gingen wir aber nie zum Bahnhof, um Baumwolle zu pflücken. So was tun nur Spinner.
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