die wahrheit: Bei Schnucki
Der wahre Report: Ein Tag mit Christian Wulff. Vor dem Klinkerbau schnarchen zwei Sicherheitsleute, und Nachbars Lumpi pinkelt in die Hecken.
HANNOVER taz | Der designierte Bundes- und Noch-Ministerpräsident von Niedersachsen empfängt uns an seinem Wohnsitz in Großburgwedel, einem Vorort von Hannover. Hier, wo der Altersdurchschnitt selbst die ZDF-Zuschauer übertrifft und die Christlichen so fest im Sattel sitzen, wie der Scheitel auf Christian Wulffs katholischem Senfkopf klebt, ist die Welt morgens um sieben noch in Ordnung.
Der Hausherr öffnet persönlich die Tür: "Om se ein." Der Reporter drückt eine erstaunlich schlaffe, wurstweiche Hand und sieht Christian Wulff entgeistert an. Der Krawattenmann 2006 steckt in Jogginghosen und Feinrippunterwäsche. Hinter der randlosen Brille verschwinden die Augen in dunklen Höhlen, unterm Kinn sprießt ein Zweitagebart. Seine Backen sind prall wie Luftballons. Hat er Mumps? Maul- und Klauenseuche? Oder kaut er lediglich auf einer äußerst widerständigen Materie herum. Wie es da so mahlt und malmt, hat er Ähnlichkeit mit einem räudigen Feldhamster.
"Schnuckimaus, das Müsli schön durcharbeiten", tönt eine glockenhelle Stimme aus dem Inneren des Bungalows. Sie gehört Zweitgattin Bettina, die wie hingegossen auf dem Sofa liegt. Blond, jung, "ein Hingucker" mit Tatoo, wie die Bunte schreibt. "Ich bin froh, dass mein Mann Ja dazu sagt, dass er eine coole Frau hat", frohlockt Frau Wulff, und lässt ein wohlgeformtes Bein von der Couch baumeln.
Die gelernte PR-Beraterin schlürft Latte macchiato und wälzt Umbaupläne für die Villa Hammerschmidt. Leider könne man die jetzt nicht mehr vorzeigen, der Terminkalender dränge, sagt Bettina. Sie tätschelt dem MP neckisch das Hinterteil, schiebt ihm das Phrasenpaket in die Aktentasche und entlässt "ihren Chrissie" mit einem launigen "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin".
Vor dem Haus knallt Chauffeur Otto Klobke die Hacken zusammen. Wulff winkt müde ab und lässt sich in den Audi fallen. "Wohin solls gehn?", fragt Klobke. "Wenn ich das wüsste", murmelt Wulff. Ist das noch der Mann, der verlauten ließ, er sei verlässlich, pflichtbewusst und ein Workaholic? Wulff seufzt. Er angelt zwei Clausthaler unter dem Sitz hervor und bietet uns eins an. Der Reporter lehnt ab. Der MP knackt die Halben auf und kippt sie auf Ex.
Noch vor drei Jahren war Genuss ihm fremd, stand jedenfalls in seinem Buch "Besser die Wahrheit". Alkohol, Tabak, Sozen oder Halligalli mag er heute noch nicht. "Wenn ich mein Pensum erfüllt habe, dann bin ich gern zu Hause, sitze am Schreibtisch, gucke ein bisschen fern oder trinke ein Glas Bananensaft," diktiert er in den Block.
Und was sagt seine Frau dazu? Wulff sieht den Reporter traurig an und schweigt. Klobke schiebt eine Kassette in den Recorder. "Komm mit ins Zukunftsland / es liegt in deiner Hand, / in Niedersachsen". Was da aus den Boxen röhrt, war mal das Leitmotiv der Landes-CDU. Bis vor ein paar Tagen, als Wulff eine Zukunft und sein Leben einen Sinn hatte.
Um zehn Uhr parkt der Audi vor dem Unternehmertreff "Pro Hannover Region". Der MP hält eine öde Rede gespickt mit Plattitüden der Extraklasse. Ein Firmenboss staunt: "Der Mann ist ja eine wandelnder Tranquilizer." Der entschuldigt sich: "Ich habe einen sehr niedrigen Blutdruck."
Um zwölf Uhr ist Kabinettssitzung in der Staatskanzlei. Wulff sieht abwesend in die Runde. Dann hebt er an: "In Niedersachsen Politik zu machen ist toll, weil wir tolle Menschen haben, die das Land gemeinsam voran bringen." Einige Minister gähnen, andere lesen feixend den Spiegel, der Gauck auf dem Titel hat und Wulff als "Geht-so-Kandidat" verhöhnt. Ans Regieren ist in diesem Binnenklima nicht mehr zu denken. Der MP trinkt zwei weitere Clausthaler.
Abends weint er manchmal
Wieso bringt er die Frondeure nicht mit einem Machtwort zur Raison? "Ich poltere nicht und ich habe keine Lust, Menschen mit aufgesetzter Lockerheit zu überfallen. Wenn es passt, mache ich einen Spruch. Das kommt dann auch gut an."
Fünfzehn Uhr. Fahrt nach Hildesheim. Termin bei Bosch-Blaupunkt. Wulff wird gar nicht erst hereingelassen. Sein Nachfolger in spe, McAllister, sei schon drin. Auf der Rückfahrt hagelt es SMS - Bettina, Merkel, Bettina, der Spiegel, Bettina, Bild, Bettina, Heinz Rudolf Kunze, Bettina, Bettina …
Wulff simst der Gattin zurück, so könne das alles nicht mehr weitergehen, er wolle nicht nach Berlin. Die Antwort kommt prompt: "Ich schon." Dann folgt ein Laotse-Zitat: "Willst du Menschen führen, so gehe hinter ihnen her." Über Christian Wulffs schlaffe Züge rinnen Tränen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus