die wahrheit: An der wilden Ostsee
"Bleiben Sie den ganzen Tag?", fragt es, und ich blinzle. Bis eben hatte ich noch geschlafen. In Decken gehüllt. Am Ostseestrand von Graal-Müritz. Um sieben Uhr früh ...
... Eine ältere Dame im Bademantel beugt sich über mich. Generös aufgetragene Schminke. "Wir sind nämlich eine Gruppe", sagt sie. "Das ist unser Platz." Ich blicke nach rechts - freier Strand bis zum Horizont. Ich blicke nach links - das gleiche. "Ja, ich wollte noch bleiben", murmle ich. "Dann bau ich mich neben Ihnen auf", sagt sie. Das klingt wie eine Drohung. Und sofort beginnt sie mit dem Bauen, hämmert einen Windschutz einen halben Meter neben mir in den Sand. Weitere Mitglieder der "Gruppe" erscheinen. Sie ruft Ihnen zu: "Der sagt, er will noch bleiben!" Danach verschwindet sie. Für einige Stunden.
Im lokalen Supermarkt besorge ich mir Frühstück. An der Kasse weist mich eine untersetzte Frau mit bunter Brille darauf hin, dass ich meinen Einkaufswagen nicht hinter mir herziehen soll. "Den Wagen immer vor sich haben", erläutert sie ernst. Da ich nicht darauf reagiere, stößt sie ihren Einkaufswagen in meine Kniekehlen. Immer wieder. Bis ich mich beschwere. Darauf sie: "Junger Mann! Sie müssen sich schon anpassen."
Auf dem Rückweg zum Strand mache ich Halt im Deutschen Haus, einer unverwechselbar deutschen Wirtschaft: ausgestopfte Tierköpfe an der Wand, wenig Tageslicht und Herzlichkeit bloß in der Speisekarte. Ich frage, ob es möglich sei, die Toilette zu benutzen. Die Kellnerin würdigt mich keines Blickes: "Wir sind kein Tourischuppen." Hat das wer behauptet? Ich biete an, für die Toilettennutzung zu zahlen, und sie weist mir den Weg. Danach ist sie nirgends zu finden. Ich spreche die Herren neben der Theke an und frage nach der Kollegin. "Das ist nicht unsere Kollegin", kommt es zurück. "Und außerdem ist Kollegin ganz schön herablassend." Wieder was gelernt.
Der Strand hat sich inzwischen gefüllt. Jeder Zweite sichert sein Sandterritorium mit einem Windschutz. Diese Strandzäune verhindern Meerblick, halten kühlenden Ostseewind ab und schützen mit einem Meter Höhe doch nicht vor fremden Blicken - die breitbeinig den Strand auf- und abstolzierende FKK-Anhänger wohl kaum stören. Der Strandzaun ist das neue schwarzrotgoldene Badetuch. Den größten besitzt ein nackter, dunkelgebräunter Pensionär, der offenbar keine Angst vor Hautkrebs hat. Eine Bekannte begrüßt er mit den Worten: "Wir umarme uns erst, wenn de nackisch bist, gell?"
In der zweiten Nacht werde ich wieder aus dem Schlaf gerissen. Diesmal: penetrantes Schmatzen. "Hallo?", rufe ich. Stille. Aber nur für eine Sekunde. "Ist da wer?" Am Strand, im Mondlicht, kein Mensch zu erkennen. Ich schalte die Taschenlampe ein. Ein massiges, haariges Etwas macht sich soeben über meine Pfirsiche her: ein Wildschwein. Ich versuche es mit: "Hey!" Das Viech zeigt sich unbeeindruckt. Zudem entsprechen seine Ausmaße denen einer Bulldogge. Also bleibe ich liegen. Rühre mich nicht. Warte. Vor mir herrliche Brandung, übertönt von Geschmatze.
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