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die wahrheit"Diese Quatschseite!"

Rückblick eines Gründers: Eine kleine Geschichte der Wahrheit.

Die Wahrheit wurde, wie seit Anbeginn der Zeit und der Zeitungen üblich, unter Schmerzen geboren. Geliebt wurde sie jedoch nur von ihren Eltern. Die meisten tazzler hielten eine satirische Seite schlicht für Papierverschwendung. Witze sollten bitte schön andere machen; man wollte den Platz lieber für weitere 500 Zeilen über "wichtige" Themen nutzen: Es war die düstere Zeit der Bleiwüsten.

Allen Widerständen zum Trotz wurde die Wahrheit-Seite täglicher Bestandteil der taz. Ihr Überleben war damit jedoch nicht gesichert. Die Auslandsredaktion telefonierte mit ihren Korrespondenten: "Schreibt nicht für diese neue Quatschseite, die wird sowieso wieder abgeschafft." Unsere Versuche, Autoren für die täglich erscheinende Kolumne zu rekrutieren, waren dann auch ein gigantischer Flop. "Arbeitsüberlastung", hieß es hier, "in diesem Land gibts nichts Lustiges", hört man da.

Nur einer fiel aus dem Rahmen: Irland- und Englandkorrespondent Ralf Sotscheck war sofort Feuer und Flamme. "Tolle Idee", freute er sich, "hier passieren so viele verrückte Sachen, die brauch ich einfach nur aufzuschreiben." Fortan schickt er uns jeden Sonntagnachmittag eine dieser herrlichen, absurden, schrulligen Geschichten und schuf sich aus dem Stand heraus eine ständig wachsende Fangemeinde.

Karl Wegmann...

... war Mitbegründer der Wahrheit und Wahrheitklubmitglied Nr. 0000000001. Er verstarb am vergangenen Dienstag. Der Text erschien zum 10. Geburtstag der Wahrheit im Jahr 2001.

Die erste Comicstripserie, Lillian Mouslis "Gruselalphabet" ("Alle schauten auf das brennende Haus … außer Klaus, der starrte raus") stieß hingegen bei einigen Lesern – und auch der Chefredaktion – auf Unverständnis. "Kinderfeindlich" sei das, "frauenfeindlich" und "menschenverachtend". Nachfolger Thomas Körner, kurz ©TOM, ging es mit seinen Strips zunächst nicht anders, "vegetarierfeindlich" und "sexistisch", lautete hier das Verdikt.

Doch als wir uns am 1. April 1993 auf der Wahrheit-Seite den kleinen Scherz erlaubten, ©TOM wegen dieser Angriffe angeblich verabschieden zu wollen, brach ein Sturm des Protests los. Chefredakteure wurden am Telefon von ©TOM-Fans unflätig beschimpft, die Aboabteilung musste Kündigungsdrohungen abwehren, Faxgeräte liefen heiß, und über hundert empörte Leserbriefe gingen ein – mehr als jemals zuvor auf einen einzelnen Beitrag hin.

©TOM blieb selbstverständlich und wurde ein Star. Fast täglich bekamen wir Anrufe von SPD-Ortsgruppen, Kleintierzüchtervereinen, Postlern (die Bundespost war ganz wild auf die Postschalterwitze), Gewerkschaftern und anderen mehr oder weniger illustren Zeitgenossen, die bestimmte Strips nachdrucken wollten. ©TOM war da immer großzügig. Und noch bevor die Touchés als gesammelte Werke erschienen, gab es schon einen Raubdruck mit sämtlichen "Witzbildchen" des Meisters.

Auch um die "Gurke des Tages" gabs Krach. "Ich lese die Wahrheit nie, aber über die Gurke des Tages ärgere ich mich jeden Tag neu", hatte eine Redakteurin auf einer Vollversammlung erklärt. Damit erntete sie zwar einige Lacher, doch der Chefredakteur zeigte sich beeindruckt und verbot die Gurke. Die Leser griffen erneut zum Telefon und zur Feder – nach zwei Tagen war die Gurke wieder im Blatt.

Bei einem wirklich ernsthaften Versuch, die Wahrheit einzustampfen, erlebte die Antihumorfraktion dann ihre schlimmste Niederlage: Die gesamte taz-Technik, große Teile der Verwaltung und auch eine Hand voll Redakteure stellten sich hinter die Seite. Dieser Triumph wurde leider vom Abgang Mathias Bröckers, des Wahrheitmachers der ersten Stunde, überschattet. Entnervt von den ständigen Grabenkämpfen warf er (Motto: "Das bisschen, was wir lesen wollen, schreiben wir uns selbst") das Handtuch und gründete das Hanfhaus.

Die große Stunde der Wahrheit schlug, als die Ergebnisse der ersten Leserumfrage nach Einführung der Seite vorlagen. Die Analyse zeigte, dass die Wahrheit nach der Seite 1 die meistgelesene der taz war. Auf einmal gabs nur noch Schulterklopfen, alle hatten die Wahrheit ja "immer schon ganz toll" gefunden. Texte aus dem eigenen Haus zu bekommen, war nun überhaupt kein Problem mehr. Plötzlich wollten alle auf die letzte Seite. Ein neues Problem.

Ein so erfolgreiches Produkt muss unbedingt verbessert werden, dachte sich die wie immer clever agierende Chefredaktion. Täglich lieferte sie Tipps, Anregungen, Belehrungen – und Ermahnungen. "Keine Witze mehr über Alte", lautete eine Chefdirektive, als eine Leserbriefschreiberin uns "altenfeindlich" genannt und mit Abokündigung gedroht hatte. Und als wir einmal die berühmte Floskel "Beam me up, Scotty" verwendeten, schlug der Chef im Lexikon nach, fand "beam" nicht und verbot uns den weiteren Gebrauch dieses Wortes. Von "Star Trek" hatte dieser feine Mann des Geistes noch nie etwas gehört, geschweige denn gesehen.

Wir nickten immer alles brav ab, bekamen hin und wieder eine Abmahnung und machten unbeirrt weiter. Ja, wir unterstützten gar die Mutter taz, wenn diese von ihrer jährlichen Finanzkrise heimgesucht wurde. Einmal ließen wir T-Shirts mit "Wenn die taz untergeht, stirbt die Wahrheit" drucken. Die Leibchen waren ein Renner, die taz überlebte.

Auch die Staatsmacht, in den Anfangstagen der taz ein ständiger Gast, später weniger, beschäftigte sich mit der Wahrheit. Eines Tages standen zwei ihrer Vertreter im kleinen Redaktionsraum der großen Seite und verlangten barsch Auskunft: "Es liegen drei Anzeigen gegen Sie vor. Es geht um diesen Singvögel-Artikel. Wir wollen die Adresse des Autors!" Wir waren perplex. Was für ein Singvögel-Artikel?

Dann brummelte der Herr Polizist etwas von "Meisen", und der Groschen fiel: Die Anzeigen (eine von einem Tierschutzverein, zwei privat) bezogen sich auf einen Text, in dem ein junger Student behauptet hatte, er fange auf seinem Balkon Meisen und verkaufe diese dann an italienische Spitzenrestaurants in Berlin, weil Singvögel auch hier inzwischen als Delikatesse gälten. Demnächst wolle er auf Amseln umsteigen, da sei schließlich mehr dran. Nachdem wir den Ordnungskräften eine kleine Lektion in Sachen Satire erteilt hatten, rangen die sich gar ein Lächeln ab. Eine Verhaftung fand an diesem Tag nicht statt.

Inzwischen ist die Wahrheit nicht mehr gefährdet. Im Gegenteil: Mehrere Autoren haben ihre Kolumnen in Büchern veröffentlicht, ©TOM ist längst ein preisgekrönter Superstar der Comicszene, Ralf Sotscheck ist ständig auf Lesereise – und auch die gesammelten Gurken des Tages findet man in gut sortierten Buchhandlungen.

Doch das alles bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Moralapöstelchen ihre Angriffe auf die Wahrheit aufgegeben hätten. Was solls? Denn wenn sich mal wieder so ein fundamentalistischer Weihwasserfrosch beschwert und die Chefredaktion daraufhin vor Ehrfurcht erstarrt und der letzten Seite eine Abmahnung verpassen will, so beweist das doch nur, dass die Wahrheit auch in ihrem elften Jahr auf dem richtigen Weg ist.

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6 Kommentare

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  • F
    Feinfinger

    Hallo Jeeves,

    der Artikel ist von 2001 und eine Erinnerung an den verstorbenen Karl Wegmann, also einer Zeit zu der Wiglaf Droste noch für die taz jeden Freitag eine Kolumne geschrieben hat. Erst seit 2006 schreibt er hier nichts mehr. Ab und zu gibt es was in der Jungen Welt zu lesen. Aber Recht haste: Ich vermisse den wohlbeleibten ostwestplusminusnullwestfälischen Dickschädel auch. Ab und zu geht er auf Lesereise (demnächst mit Ralf Sotschek in Kassel) oder noch besser: ein Konzert mit dem Essener Spardosen Terzett! (Gibt auch einiges auf Youtube.)

    Saludos

    Feinfinger

  • PJ
    Peter Jomm

    Der Text stammt aus dem Jahr 2001 - so steht es ausdrücklich in dem Kasten. Warum hätte die taz damals schon etwas über den Rauswurf von Droste schreiben sollen, der erst viel später erfolgte? Wenn Droste das damals schon gelesen hätte, dass er rausfliegen wird, dann hätte ihn das sicherlich nicht sonderlich motiviert. Vielleicht hätte er sogar von selbst das Handtuch geworfen. Dadurch, dass die taz das damals verschwiegen hat, hat sie uns also noch ein paar Jahre mit Droste beschert. Danke!

  • P
    Petra

    Nachtrag:

    Oh shit. Lese ich erst jetzt, dass Karl tot ist! Ich halte dich in liebster Erinnerung, alter Junge. Du gehörtest zu jenen, die ich wirklich ernst nehmen konnte - eben wegen deines Humors.

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    Schön, mal wieder was von dir zu lesen, Karl. Und vor allem über eine Zeit, als Satire und Humor in der guten alten taz zu Herzsaltos und Moralsuchtsanfällen bei den P-Korrekten führten. Vielleicht immer noch?

     

    Ich kann mich noch gut an die Diskussionen in der Konferenz und sonstewo erinnern, als krampfhaft versucht wurde, in den eigenen Reihen irgendwo Diskriminierung oder, schlimmer noch, Lachen rauszufriemeln, zu enthüllen und zu verdammen - jene Generation, die Adornos Spruch ("nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch") allzu weit gefasst hatte. Als hätten sie nie von Tucholsky gehört.

     

    Die Suppentruppe, die schließlich die Wahrheit gründete, war schon immer die mit dem kreativsten Potential. Eine, die auch Poesie und Humor im Politischen und Alltäglichen fand.

    Die Seite lese ich (anders als die anderen Seiten) noch heute, online allerdings, da im Ausland wohnend.

    Schade, dass viele aus der Gründerzeit nicht mehr dabei sind.

     

    Grüße von einer alten Kollegin!

  • B
    Betty

    Es sind schon sehr widersprüchliche Gefühle, diesen guten Text zu den Erfahrungen mit der "Wahrheit" zu lesen, in vielen Punkten zustimmen zu können und zu wissen, dass der Autor jetzt leider nicht mehr lebt, viel zu früh verstorben ist.

    Ich hoffe, dass das befreiende Lachen über viele Beiträge auf dieser Seite weiter in seinem Sinne ist und das Andenken an ihn wachhält.

    Ich gehöre zu den LeserInnen, die die Wahrheit immer lesen, auch wenn ich nicht dazu kommen sollte, die ganze taz zu lesen (ja, das muss ich zu meiner Schande gestehen!). Ich lese die taz in der Regel moregens in der S-Bahn und informiere mich über alles, was in der Welt so wichtig. Als Belohnung für mein Bemühen um Information lese kurz vor der Ankunft im Zielbahnhof einige Beiträge der Wahrheit, auf jeden Fall aber Toms Touché. Es gefällt mir, wie hier manchmal hehre Ideale lächerlich gemacht werden. Das hat etwas Befreiendes bei den vielen moralischen Diskursen, auch wenn es nicht immer political correct ist. Sicher gefallen mir nicht alle Witze, von manchen bin ich peinlich berührt. Ich meine aber, das gehört dazu. Auf jeden Fall ist es mir schon manches Mal so gegangen, dass ich aufpassen musste, nicht in der S-Bahn laut los zu lachen, weil die Komik richtig gut war. zuletzt war das bei dem Artikel "Amsel, du Schwein" der Fall.

    Ich wünsche mir, dass die taz mit der Wahrheit so weiter macht.

    Der Kommentator vor mir hat von Rausschmissen geschrieben. Das habe ich nicht mitbekommen. Stimmt es, dass Wiglaf Droste rausgeschmissen wurde? Seine Texte fand ich eigentlich auch weniger gut, zu aggressiv.

  • F
    Feinfinger

    Hallo Jeeves,

    der Artikel ist von 2001 und eine Erinnerung an den verstorbenen Karl Wegmann, also einer Zeit zu der Wiglaf Droste noch für die taz jeden Freitag eine Kolumne geschrieben hat. Erst seit 2006 schreibt er hier nichts mehr. Ab und zu gibt es was in der Jungen Welt zu lesen. Aber Recht haste: Ich vermisse den wohlbeleibten ostwestplusminusnullwestfälischen Dickschädel auch. Ab und zu geht er auf Lesereise (demnächst mit Ralf Sotschek in Kassel) oder noch besser: ein Konzert mit dem Essener Spardosen Terzett! (Gibt auch einiges auf Youtube.)

    Saludos

    Feinfinger

  • J
    Jeeves

    Seltsam ist's schon: kein Wort über Wiglaf und andere Rausgeschmissene, weil sie tatsächlich Satire schrieben und keine Witzchen.