die wahrheit: Der Homosexuelle Mann...
... ist eine Klatschbase. Eine Plaudertasche. Eine böse Zunge. Diskretion kennt er nicht, Geheimnisse sind bei ihm schlecht aufgehoben...
... und die Details eines Gerüchts sind ihm wichtiger als jede Wahrheit. Mit der Nachrede rächt er sich an den Zumutungen der Welt, und aus dem Hinterhalt seiner Neugier und Gesprächigkeit zeigt der homosexuelle Mann eine Macht, die ihm nicht zukommt im sonstigen Leben. Sein gesellschaftlicher Ort prädestiniert ihn zur Klatschbase, am anderen Ufer ist jede Tugendhaftigkeit vergebens. Und nicht zuletzt: In der Afterrede sind alle gleich.
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Fritz J. Raddatz ist ein Experte des gehobenen Klatsches, seine gerade erschienenen Tagebücher sind sein Meisterwerk: Spannender als die meisten Krimis, aufschlussreicher als irgendeine soziologische Analyse deutscher Befindlichkeit, von höherem Erkenntnisgewinn als jede literaturwissenschaftliche Dissertation.
In seinem Mitteilungseifer macht Raddatz vor niemandem Halt. Marion Gräfin Dönhoff - "die Inge Meysel des Journalismus" - ist verlogen und Rudolf Augstein ein Trinker, Günter Grass ein untreuer Ehemann, aber treuer Freund, Thomas Brasch "schwul im Kopf" und Gabriele Henkel "am Rande des Dürftigen".
Wir erfahren, bei wem Champagner serviert wurde und bei wem nicht einmal ein Glas Wasser, wo das Interieur akzeptabel war und wer im Müll hauste, wer Schwule ablehnte oder das eigene gleichgeschlechtliche Begehren zu kaschieren suchte. Und die ganze Buchmessen-Gesellschaft: "ein Lemuren-Kabinett". Auch vor sich selbst macht Raddatz keinen Rückzieher: "Je älter, faltiger, weißhaariger und hässlicher ich werde, desto unstillbarer das Verlangen nach schönen Blumen um mich, schönen Möbeln, Objekten, Bildern - eine riesige Ersatzhandlung."
So was ist sonst nirgends zu lesen. Weil die einen sich zu fein dafür sind, mit derlei vermeintlichen Nichtigkeiten hervorzutreten, und die anderen nicht einmal mitbekommen, was um sie herum so passiert. Weil die einen vorgeben, die Privatsphäre zu respektieren und deshalb lieber schweigen, und die anderen ihre Attacken lieber hinter konformen Phrasen verbergen. Nichts davon gehört zum Repertoire des Fritz J. Raddatz.
Er ist dabei in guter Gesellschaft. Die Liste der schwulen Schriftsteller mit ähnlich böser Zunge ist prominent besetzt: Hubert Fichte und Truman Capote, Jean Cocteau und Roger Peyrefitte, Tennessee Williams und André Gide. Dennoch bleibt die Anerkennung ihres besonderen Talents als eigenständiges literarisches Genre aus. Dabei stehen sich die Herren Klatschtanten am meisten selbst im Weg, ihnen mangelt es an gegenseitigem Respekt voreinander.
Cocteau sei, schreibt Capote abfällig, eine "berufsmäßige Plaudertasche", Fichte spricht nach seinen Gesprächen mit Hans Werner Henze herablassend vom "Tuntenschnack", und für Raddatz ist Ben Witter nichts weiter als eine "klatschsüchtige Tunte". Der böse Ton - und das macht ihn so versöhnlich - kennt wirklich keine Freunde und Verwandte.
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