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die wahrheitDer Schock meiner Kindheit

Neulich überholte ich eine Horde Schulkinder auf dem Nachhauseweg. Erste, allenfalls zweite Klasse. Sie trugen schwer an ihrem Fünf-Kilo-Marschgepäck, ...

... konnten aber immer noch rennen wie die Hasen. Ein paar Girlies trieben nämlich ihre männlichen Klassenkameraden vor sich her. Was die Mädchen riefen, konnte ich nicht verstehen, aber mir vorstellen, als sich einer der Jungs plötzlich umdrehte und empört seine noch ganz kleinen Fäustlinge in die Hüften stemmte. "Bei aller Liebe, ich möchte keinen Geschlechtsverkehr mit dir." Auch so ein Satz, den man noch nie gesagt hat.

Aber er erinnerte mich bedenklich an das Ende meiner Kindheit. Es war in meinem elften Jahr und das Mädchen als solches noch mindestens drei, vier Monate "doof", da kam mein Vater eines Nachmittags in mein mit mehreren Dutzend Matchbox-Boliden und einer halb aufgebauten "Hot Wheels"-Rennbahn vollgerümpeltes Kinderzimmer. "Hier müsste aber auch mal wieder aufgeräumt werden", begann er, "ach, Schwamm drüber." Ich war gewarnt!

Er versuchte mir dann mit ungewöhnlich leuchtenden Augen weiszumachen, dass ich nun langsam "in ein Alter" käme, wo einem die Eltern vor allem peinlich seien. Ihm könne man nichts vormachen, schließlich sei er selbst mal jung gewesen. "Ja, davon habe ich schon gehört", antwortete ich. "Siehste", nickte er euphorisch. "Und deshalb haben wir uns gedacht, dass wir dir eine große Freude machen, wenn wir dir erlauben, in diesem Jahr nicht mit uns in den Urlaub zu fahren, sondern …" - "Sondern?" - "Sondern zu Hause zu bleiben bei Oma und Opa."

"Was habt ihr vor?", entgegnete ich scharf, weil ich fest damit rechnete, dass sie eine sechswöchige Luxusschiffsreise gebucht hatten und mich für diese Zeit kostengünstig abzuschieben gedachten. Aber nichts dergleichen war geplant. Ihnen stand nach vierzehn Tagen Allgäu der Sinn, also setzte ich mein unergründliches Mau-Mau-Gesicht auf. "Hundert Mark Urlaubsgeld, und ich bleibe hier!" - "Fünfzig, oder du kommst mit!" - "Mit dir kann man Geschäfte machen", sagte ich.

Es wurden dann ziemlich lehrreiche Ferien. Die großelterlichen Nachbarn bekamen ebenfalls Besuch - von ihrer Enkelin. Die war zwar nur geringfügig älter als ich, aber schon weiter herumgekommen in der Welt. Und so ließ sie mich freundlich teilhaben an ihren Kenntnissen. So wusste sie, was man mit den auf Kneipenklos feilgebotenen Luftballons anstellen konnte. Man zog sie über den Auspuff von Opas Audi, und wenn es knallte, musste man schnell weglaufen.

Am Ende der Ferien hatte ich meine Wissensdefizite aufgeholt, dachte ich. Aber das feite mich nicht vor dem Schock der Erkenntnis, als die Eltern aus dem Urlaub kamen, sich an den Kaffeetisch setzten, um von den wagenradgroßen Schnitzeln in den Bergen zu schwärmen, und mein Vater plötzlich und ohne Vorwarnung unter aller Augen eine Familienpackung Fromms auf den Tisch knallte. Offenbar hielt er sie für seine Zigaretten. "Huch", machte meine Mutter und lachte wie eine Hyäne. Das war das Ende meiner Kindheit.

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