die wahrheit: Der schielende Uwe
Mediensensation: Ein Neuköllner mit Augenfehler entzückt die Welt.
Uwe Wagner ist Alkoholiker aus Berlin-Neukölln und wirklich keine Schönheit. Aber Wagner hat etwas, was ihn von gewöhnlichen Mitmenschen unterscheidet: er schielt. Das machte ihn zum Star.
Alles begann am ersten Tag des neuen Jahres. Gemeinsam mit einem ehemaligen Arbeitskollegen schlief der frühverrentete Blechmacher Wagner den Neujahrsrausch in seinem Neuköllner Wohnzimmer aus. Als beide gegen Mittag erwachten, beschloss man einstimmig, das nunmehr angebrochene Jahr nicht niederpromillig fortlaufen zu lassen und leerte in wenigen Minuten eine Flasche Korn. Dermaßen erfrischt fasste Wagner den Beschluss, die Hausbar aufzufüllen und begab sich zu einem in der Emser Straße ansässigen Penny Markt.
Als er feststellte, dass die Verkaufsstelle an diesem ersten Feiertag des Jahres nicht geöffnet hatte, entlud er seinen Zorn an einigen umstehenden Einkaufswagen und einem Informationskasten für Produktangebote. Besorgte Anwohner alarmierten umgehend die Polizei. Die Beamten nahmen Wagner daraufhin in Gewahrsam und brachten ihn zur Ausnüchterung aufs Revier, wo sich wohl ein Wachtmeister einen Scherz erlaubte: Er erstellte Wagner eine Facebook-Seite. Ins Profilbild setzte er ein auf der Wache geschossenes Lichtbild des ehemaligen Blechers, auf dem der 59-Jährige herzerweichend in unterschiedliche Richtungen blickt.
"Uwe, der schielende Alkoholiker", brachte es daraufhin in wenigen Stunden zum Superstar des Internets. Um 15 Uhr erfolgte die Festnahme, um 18 Uhr hatte Wagner sagenhafte 750.000 Likes auf der Online-Plattform und bereits um 21.45 Uhr zog ZDF-Frontmann Claus Kleber im "heute journal" seine Mundwinkel unmerklich hoch und berichtete angestrengt lustig über den herrlich witzigen Fall.
Was danach geschah, ist ein einmaliger Hype. Auf "Schiel-Uwes" Kommentarwand wurden bis zum heutigen Tag mehr als 600 Millionen Einträge aus aller Herren Länder gezählt. Den Tenor spiegelt folgender Kommentar wider: "lol, so sweet! Uuuuwe rofl :)". Briten, Japaner, Chilenen und Fruganer feierten den Frührentner und kündigten an, ihn in Neukölln zu besichtigen.
Der enorme Rummel um Uwe Wagner brachte schließlich auch den Regierenden Bürgermeister von Berlin auf den Plan. Klaus Wowereit konnte angesichts der im September anstehenden Abgeordnetenhauswahlen jede positive Publicity gebrauchen und nutzte Uwe nach dessen Entlassung aus dem Polizeigewahrsam als Sympathieträger auf öffentlichen Veranstaltungen. Fotografieren und streicheln - alles ließ "Schiel-Uwe" zu, ohne zu beißen. Und hatte sich dadurch bereits jetzt für höhere politische Aufgaben empfohlen.
Zu seinem Glück stellte sich außerdem heraus, dass er seit einiger Zeit mit der tätowierten Ursula Machowski aus dem zweiten Obergeschoss seines Hauses und ihren fünf Kindern aus sieben Ehen in einem losen Patchwork-Verbund zusammenlebt. In einer beispiellosen Kampagne hievte ihn deshalb die Bild ins Präsidentenamt der Augenoptiker-Innung und in das des Bundespräsidenten. Seine dortigen Leistungen, vier Flaschen "Goldkrone" pro Tag, die launige Entlassung des Kabinetts Merkel II und sein - zugegebenermaßen erfolgloses - Beharren auf eine Bundesregierung bestehend aus Schimpansen im Seemannskostüm und Klaus Wowereit, brachten ihm schließlich volle Anerkennung auf internationalem Parkett. Er erhielt den Friedensnobelpreis, den alternativen Nobelpreis und die Auszeichnung der deutschen Branntweinhersteller für sein Lebenswerk.
Doch all das verleitete Uwe Wagner nicht dazu, die Bodenhaftung zu verlieren. Noch heute kann man den "schielenden Uwe" zuweilen in seinem angestammten Kiez beim öffentlichen Urinieren beobachten. Vier Milliarden Personen gefällt das.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker