die wahrheit: Troubadour der Heide
Entdeckung des Jahres: Der heimliche Kammersänger Arno Schmidt.
Arno Schmidt als Sänger? Man kennt ihn als Schriftsteller, Übersetzer und Sprecher sowie als Zeichner und Designer und Selenografen, und vorübergehend soll er auch einmal das Amt eines Küsters angestrebt haben. Als Gesangskünstler hat er zu seinen Lebzeiten jedoch nicht von sich reden gemacht. Im Gegenteil; er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er Musik danach beurteile, ob sie ihn bei der Arbeit störe, also beim Schreiben.
Umso größer ist die Überraschung, mit der die Bargfelder Arno Schmidt Stiftung jetzt aus dem Nachlass des 1979 verstorbenen Autors herausrückt: Auf sechs CDs ist zu hören, wie sich Schmidt das Liedgut anverwandelt, das er größtenteils durch Funk und Fernsehen kennengelernt zu haben scheint. Dabei handelt es sich naturgemäß zumeist um Golden Oldies wie "Ich will keine Schokolade", "When the Saints Go Marchin In", "Blue Suede Shoes", "Ick hevv mol n Hamburger Veermaster sehn", "Bridge Over Troubled Water", "Ol Man River" und "Merci Chérie". Aber auch die Seventies sind prominent vertreten. Wer glaubt, dass Arno Schmidt damals zu alt gewesen sei, um die internationalen Charts und auch die Klassiker der ZDF-"Hitparade" rauf und runter nachzusingen, der kann sich hier eines Besseren belehren lassen. Herausragend: "Der Junge mit der Mundharmonika", "Ein Bett im Kornfeld" und (mit Abstrichen, weil eine Katze dazwischenschreit) "Am Tag, als Conny Kramer starb". Da ist Musik drin.
Danken muss man den Herausgebern dafür, dass sie das Potpourri nicht entwirrt und entschärft, sondern so ungeordnet und naturbelassen veröffentlicht haben, wie es seinerzeit auf die Bänder kam. Dadurch ergeben sich bisweilen reizvolle Kontraste. Auf "Je Ne Regrette Rien" folgt "Rock Around the Clock", und gleich danach erklingt "Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand". An anderer Stelle geht "Weiße Rosen aus Athen" unmittelbar in "Eve Of Destruction" über. Auch nicht schlecht.
Die Klimax ist erreicht, als Schmidt ein Medley aus den Beatles-Songs "I Am the Walrus", "Help" und "Helter Skelter" mit einer verzerrten Version der Eurovisionsfanfare toppt. Sein erstaunliches Stimmvolumen hat Schmidt dabei mitunter noch unter Zuhilfenahme einer Gießkannentülle erweitert.
Wie aber kam es überhaupt dazu? Nach Auskunft des Herausgeberteams hat Schmidts Frau Alice im Spätherbst 1977 ein Tonband auf dem Sperrmüll gefunden und es heimgebracht und repariert. Einem handschriftlichen Vermerk zufolge datiert der Mitschnitt aus der Silvesternacht 1977/78, in der es relativ "feuchtfröhlich" hergegangen sein soll. Anschließend sind die Bänder in einer Küchenschublade abgelegt worden, deren irgendwann verloren gegangener Schlüssel sich erst in diesem Frühjahr wieder angefunden hat.
Und was bezweckte Schmidt damit? Das lässt sich leider nicht mehr ermitteln. Möglicherweise war ihm nicht einmal bewusst, dass das besagte Tonband mitlief, als er den Liederkranz eröffnete, und alles diente nur dem sogenannten Hausgebrauch. Doch wie auch immer: Auf Schmidts Musikkonsumverhalten werfen diese Aufnahmen ein gänzlich neues Licht. Wer hätte schon gedacht, dass sich hinter dem "Solipsisten in der Heide", wie man ihn nannte, in Wahrheit ein intimer Kenner und begnadeter Interpret von Werken verbarg, die andere Männer seines Alters als "Hottentottenmusik" abtaten? Selbst für abgedroschene Shanties, Werbe-Jingles und "Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu Strand-Bikini" war er sich nicht zu schade, und ganz zum Schluss hat er auf seiner geliebten Mundorgel die Erkennungsmelodie der legendären Fernsehserie "Bonanza" intoniert. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
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