die wahrheit: Angst vor der Kralle
Sepp Lodenmeier hat Angst - Angst vor der Kralle, die jeden Moment zuschlagen kann und den Rollator des 87-Jährigen ohne Vorwarnung zum Stillstand bringt. ...
... "Es ist grauenhaft, ich fühle mich wie gefangen", sagt der gehbehinderte Mann, der seit Jahren auf den Rollator angewiesen ist. "Ich kann diesen Monat keinen Schritt mehr aus dem Haus machen, mein Kontingent ist aufgebraucht", klagt der Alte mit brüchiger Stimme und blickt sehnsüchtig zur Tür.
Schuld an der Misere ist die Macht der Autolobby. Nachdem das Verkehrsministerium erst kürzlich vorgeschlagen hatte, die Autofahrer durch eine Pkw-Maut mit jährlich bis zu 365 Euro zur Kasse zu bitten, um die chronisch klammen Kassen aufzubessern, regte sich dagegen so heftiger Widerstand, dass die Pläne mit 180 Sachen wieder in der Schublade verschwanden. Stattdessen will man nun mit der Maut auf weniger aufmüpfige Zielgruppen ausweichen. In der Folge einigten sich Verkehrs-, Familien- und Gesundheitsministerium auf eine "allgemeine Mobilitätsabgabe", die den Ministerien zufolge "alle Schichten der Gesellschaft gleichermaßen beteiligt".
Doch welche Unbill dies bedeuten würde, konnte man kaum ahnen. Sepp Lodenmeier musste es als einer der Ersten schmerzlich am eigenen Leib erfahren, denn der Rentner aus Würzburg ist Teilnehmer eines Pilotprojekts - und nun am Rande des Zusammenbruchs. Dank einer zugrundeliegenden Quote, die je nach Alter eine Freigrenze für die Mobilität festlegt, ist er mit seinen 87 Lenzen in die höchste Immobilitätsgruppe gerutscht. Genau wie bei Bettlägrigen gewährt man ihm von Amts wegen nur noch 600 Meter pro Monat. Jede zusätzlichen 10 Meter kosten 2 Euro, abgerechnet wird per GPS-Chip in der Gehhilfe. Extra-Meter kann sich Lodenmeier aufgrund seiner schmalen Rente aber nicht leisten. "Ich traue mich kaum noch auf die Toilette, ständig habe ich Angst, dass der Rollator die Radkralle ausfährt, wenn ich nicht bezahle. Dann komm ich nie mehr vom Klo weg!", beschreibt er sein Dilemma.
So wie Lodenmeier geht es momentan vielen Bürgern im Einzugskreis des Pilotprojekts. Nicht nur Senioren trifft es hart, auch Jüngere treiben die neuen Regelungen zur Verzweiflung. Marianne Fleck aus Aschaffenburg, Mutter von sechs Kindern, weiß kaum noch ein und aus: "Für uns war das einfach nicht mehr zu stemmen, die vier Fahrräder, das Dreirad, ein Kettcar und dann die Kinderwagen!" Alle diese Fahrzeuge sind von nun an steuerpflichtig und werden mit Kennzeichen erfasst. Auch eine regelmäßige Prüfung beim TÜV ist vorgeschrieben und schlägt mit 15 Euro pro Rad zu Buche. "Alles in allem sollten wir 320 Euro im Monat zahlen! Dafür, dass wir mit unseren Kindern an die frische Luft gehen", empört sich Marianne Fleck und bricht in Tränen aus: "Wir haben sogar das Hamsterrad abschaffen müssen!" Beim täglichen Kilometerverbrauch von Familienliebling Goldi wäre es nicht mehr finanzierbar gewesen.
Und an einer weiteren Stelle schlägt der Staat ebenfalls knallhart zu: im Supermarkt. So schaute auch Peter Possendorf mehr als verdutzt, als der Einkaufswagen nach seinem samstäglichen Vorratseinkauf im Megadiscount den eingesteckten Euro einfach einbehielt und partout nicht mehr herausrücken wollte. Dabei muss sich der Hartz-IV-Empfänger jeden Cent vom Munde absparen. Der Schock saß tief, als er begriff, dass nun alle Wagen eine staatlich verordnete Mietgebühr erheben, die das Verkehrsaufkommen in den Regalstraßen der Supermärkte drastisch reduzieren sollte. Doch weit gefehlt: Dank einem Schlupfloch in der Regelung kommt es hier zu schlimmeren Verstopfungen als je zuvor. Weil nämlich nur Fahrzeuge mit Rädern besteuert werden, sind nun selbst im Frühling Schlitten der große Renner. Zu Hunderten werden sie dieser Tage durch die Supermärkte geschleift - mit fatalen Auswirkungen für Bodenbeläge und Gehörgänge.
Dies sei eines der Problemfelder, wo man "zügig nachbessern" wolle, heißt es aus den Ministerien. Und: Um solche Schwächen zu erkennen, veranstalte man schließlich ein Pilotprojekt. Alles in allem sei man aber mehr als zufrieden mit den Ergebnissen und den sprudelnden Einnahmen, schließlich gehe es nur um eins: "Wichtig ist es, dass jeder seinen Beitrag leistet, um Deutschland zu einem besseren Ort für alle zu machen."
Rentner Lodenmeier hat von dieser rosigen Zukunft allerdings nichts: Ihm hat man gerade mitgeteilt, dass sein "Essen auf Rädern" dank der Maut künftig 23 Euro pro Tag kosten soll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken