die wahrheit: Ein brilliantes Exposé
Mein Leben war reichlich außer Kontrolle geraten. Ich versuchte, meine Sex-, Alkohol- und Drogensucht, die Schreibblockade, die Erziehung meiner pubertierenden Tochter...
...und den verzweifelten Kraftakt, die Liebe meines Lebens zurückzugewinnen, unter einen Hut zu bringen.
Mit dieser gerafften Einleitung offenbarte ich Johanna, meiner Agentin, das Befinden. Eilends fügte ich hinzu, dass ich diese prekäre Existenz immerhin ausgeplündert und das brillante Exposé für eine irrwitzige Fernsehserie geschrieben hatte, als Heilungsverfahren gewissermaßen: "Natürlich schildere ich diese explosiven Begebenheiten aus dem wahren Leben nicht eins zu eins und sowieso mit schwarzem Humor. Außerdem verwandelt sich die Tochter in zwei Söhne à la Kain und Abel. Doch die autobiografischen Züge sind subkutan zu spüren, wodurch Energie in das Manuskript einfließt, dass es sich gewaschen und, ähm, gebügelt hat." Da es schockierend direkt und hart erzählt werde, extrem dicht, würde allerdings bestimmt die Freigabe ab 18 aufgestempelt.
Johanna schwieg wie Nofretete, dann erwiderte sie: "Apropos ,dicht' … Du bist nicht ganz dicht." In Windeseile hatte sie eine Netzseite angesteuert. Mit nahezu den gleichen, nein, denselben Worten beschrieb ein Waschzettel die Konstellation der TV-Serie "Californication".
Die Serie war mir vollends entgangen, ich kannte lediglich das gleichnamige Album der Red Hot Chili Peppers. "Tja, mein Lieber", schloss Johanna den niederschmetternden Abruf, "so einzigartig scheint der Sturz ins Bodenlose, dem du dich ausgesetzt wähnst, nicht zu sein. Anders gesagt: Such is life, immer sucher und sucher. Respektive: Damit wir endlich wieder eine Serie verkaufen, solltest du dich auf dem Laufenden halten."
Da sprach sie was an. Es stimmte, ich lebte ohne Fernseh, ohne Fernweh, doch gab ich nicht sofort auf: "Es dreht sich doch um das Wie, nicht um das Was, oder? Eingedenk der knapp sieben Milliarden Erdbewohner erwartet kein vernunftbegabter Zeitgenosse außenperspektivisch Einzigartigkeit. Es drängen sich Grundideen auf, und die werden variiert."
Die Augenbrauen runzelnd, stieß Johanna einen Seufzer der Vergeblichkeit aus, und ich schenkte Whiskey nach, je vier Finger hoch Tullamore Dew. Sollte ich ihr das zweite Konzept schildern, das zu sechs Folgen gediehen war? Der Plot fußte freilich null Komma nichts auf meiner Biografie, schwor ich beim Leben meiner Mutter, umso gewogener würde meine Agentin sein.
"Nun also, der Mythos von Ödipus wird upgedatet ins Hier und Jetzt. Der Arbeitstitel MF inspiriert zu etlichen komischen Szenen. MF. Jeder verstehts, aber man darfs nach wie vor nicht laut sagen." Johanna grunzte und dann - machte es Klick: "Motherfucker? Wie gewagt, wie originell."
An dieser Stelle breche ich ab, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Johanna die Zusammenarbeit kündigte und kurz danach mein nächstes Buch zu einem Bestseller reifte: "Luzifer liebt uns alle". Muss nur noch jemand schreiben.
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