die wahrheit: Menschenhändler wider Willen
Wir waren fassungslos. "Das … das kannst du nicht machen!", stotterte Raimund. Rick, der Wirt des Prokopop Z, grinste nur. Er löschte das Licht ...
W ir waren fassungslos. "Das … das kannst du nicht machen!", stotterte Raimund. Rick, der Wirt des Prokopop Z, grinste nur. Er löschte das Licht und schob uns aus der Kneipe hinaus. Dann schloss er die Tür ab und ging nach einem süffisanten "Bis dann, Männer" die Straße Richtung Goetheplatz hinunter.
"Das gibts doch nicht", hauchte ich. Rick hatte Theo, Raimund und mir erklärt, heute früher schließen zu müssen, weil er mit einer Frau verabredet sei, die er im Internet kennengelernt hatte. "Wenn du dich während der Arbeitszeit unbedingt mit einer Frau treffen musst, warum denn nicht in deinem eigenen Laden?", rief Theo ihm nach: "Ist doch viel billiger! Und du kannst sie uns gleich vorstellen!" Doch Rick drehte sich nicht einmal um und verschwand in der Nacht.
"Mann!", seufzte Raimund: "Und nun?" Es war halb elf am Freitagabend, also viel zu früh, um nach Hause zu gehen. Das Café Gum hatte wegen Renovierung geschlossen, und alle anderen Kneipen in dieser Stadt kamen für Jungs wie uns nicht in Frage, denn in die traurigen, kalten Pilsstuben für einsame, alte Knacker wollten wir nicht gehen, und in den Läden für junge Menschen würde man uns entweder für schlecht getarnte Drogenfahnder halten oder für skrupellose Menschenhändler, die nur darauf warteten, arglosen Studentinnen K.-o.-Tropfen ins Glas zu schütten. Rausschmeißen würde man uns in jedem Fall.
"Früher", sagte Raimund, "hätten wir uns jetzt in eins von unseren alten Autos gesetzt und die Straße nach Süden gesucht." - "Richtig!", rief Theo, der plötzlich wieder lachen konnte: "So oder so ähnlich!" Ich seufzte. Vor sehr, sehr langer Zeit hatten wir uns an einem Abend, an dem wir nicht wussten, wohin mit uns, in Theos alten Ford gesetzt und waren einfach losgefahren.
Wir hatten die Nacht mit lauter Musik und vielen Zigaretten zugebracht und uns begeistert die Städtenamen auf den Autobahnschildern vorgelesen. Wir hatten in der Nähe von Vienne gefrühstückt und in Nizza eine Riesenschüssel Meeresfrüchte zum Mittagessen verspeist und waren danach von dem Touristenfraß alle drei tagelang sterbenskrank gewesen. Trotzdem schwärmten wir bis heute von dieser Fahrt, als wäre sie das herrlichste Abenteuer unseres Lebens gewesen.
Nun war es so weit, wir stürmten zu Theos Wagen: Das Rauchen hatten wir schon lange aufgegeben, die Städtenamen auf den Schildern aber konnten wir uns noch immer begeistert vorlesen. Zumindest bis kurz hinter Karlsruhe. Dann wurden wir müde, sehr müde. "Wir müssen eine Pause machen", gähnte Theo und fuhr auf einen Parkplatz: "Kurzer Kraftschlummer, dann sausen wir in einem Rutsch bis nach Vienne!"
Als wir erwachten, war die Sonne schon aufgegangen. Zwei Polizisten klopften ans Fenster. Sie wollten unsere Ausweise sehen und den Wagen durchsuchen, da sie uns wohl für Menschenhändler hielten und sich nicht vorstellen konnten, dass drei alte Knacker wie wir einfach losgefahren waren, um über die Autoroute du Soleil in den Süden zu brausen und sich in Nizza mit Meeresfrüchten zu vergiften.
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