die taz vor zehn jahren : Wer ist Deutsch?
In Deutschland gilt noch immer, daß nicht automatisch deutscher Staatsbürger sein darf, wer hier geboren wird. Wer hingegen (wie die Wolgadeutschen) das richtige Blut vorweisen kann, hat Anspruch auf die hiesige Staatsangehörigkeit. Das ist, abgesehen von dem rassistischen Beigeschmack, ein Anachronismus, der in einem modernen Staat nichts zu suchen hat.
Daß hierzulande, anders als in Frankreich und England, noch immer jenes Jus sanguinis gilt, ist mehr als mißlich. Dieses Gesetz ist eine Schikane, die es den hier lebenden Immigranten erschwert, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Daß sich insbesondere die CDU/CSU seit Jahren hartnäckig weigert, dies zu ändern, offenbart eine deutsche Lebenslüge: die klammheimliche Hoffnung, daß jene, die vor vierzig Jahren als Gastarbeiter kamen, irgendwann doch wieder ihre Koffer packen. Deshalb wird den Kindern von Immigranten, die seit Jahrzehnten hier leben, die automatische Anerkennung als Deutsche versagt. Daß dies kein akzeptabler Zustand ist, können eigentlich nur Rassisten bestreiten.
Einhundertfünfzig CDU-Bundestagsabgeordnete haben nun ein Papier unterschrieben, das die Blockade beenden könnte. Erstens, so ihre Forderung, sollen Kinder ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, mit 21 Jahren sollen sie sich dann für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen; zweitens sollen Ausländer, die zehn Jahre hier leben, eingebürgert werden. Dieses Papier kann zur Nagelprobe für die CDU/CSU werden.Stefan Reinecke in der taz vom 19. 6. 1996