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Archiv-Artikel

die taz vor zehn jahren über fünf punkte und die pds

Nicht nur für die bürgerlichen Parteien war es in der Mitte stets am gemütlichsten. Die Sozialdemokratie vor dem Sündenfall von August 1914 hatte im „Zentrum“ ihren Gravitationspunkt. Je gelenkiger im Pragmatischen, desto hehrer im Programmatischen, dafür sorgte das Zentrum, mit Karl Kautsky als Equilibristen des gleichmäßigen Kampfs gegen linke und rechte Abweichungen. Während der kurzlebigen Blütenträume des Eurokommunismus in den 70er-Jahren kam er wieder zu Ehren, hatte er doch gegen Lenin auf der klassenübergreifenden Bedeutung demokratischer Einrichtungen bestanden und die „Diktatur des Proletariats“ als Marginalie im Denken von Marx abgetan.

Ein Kautsky käme auch der PDS zupaß, allein er zeigt sich nicht. Es besteht dringende Nachfrage nach strapazierfähigem Theoretischem, nach einer Integrationsideologie, die das Vertraute ins Neue hinüberrettet. Wie kann die Bewegung in den Länderkabinetten mit dem Endziel, der „Überwindung der Kapitalvorherrschaft“ (nicht mehr schlicht der Kapitalherrschaft), in Einklang gebracht, wie kann „Sozialismus“ als Projekt der Ausgebeuteten beibehalten und gleichzeitig ins Menschheitliche ausgeweitet werden?

Das Gros der Militanten in der PDS verlangt nicht nach Ausarbeitung einer kritischen Gesellschaftstheorie. Ihm geht es um den wohltätigen Schein. Es möchte, daß Kontinuität und Bruch walten, im taktisch jeweils günstigsten Verhältnis.

Die fünf am letzten Wochenende von Bisky, Gysi und Modrow vorgelegten Thesen zum Parteitag möchten ein Gleichgewichtsmodell konstruieren, dabei aber gleichzeitig den Hauptschlag gegen den Dogmatismus führen. Nicht die Damen und Herren Wagenknecht, Benjamin und Scheringer werden diesem Versuch gefährlich werden, sondern viele der identitätshungrigen PDS-Funktionäre, die nach sozialistischer Erbauung dürsten. Ein Kautsky wird dringend gesucht! Christian Semler,taz, 16. 1. 1995