die taz vor 18 jahren : Deutschlands Einheit und Polen
Zu den Gemeinplätzen des polnischen Geschichtsverständnisses gehört die Vorstellung von der Zwangslage Polens zwischen Rußland und Deutschland. Nachdem Stalin die zwischen ihm und Nazi-Deutschland verabredete vierte Teilung Polens besiegelt hatte, blieb den Polen nur der bewaffnete Widerstand im Innern und der Kampf an der Seite der Alliierten. Aber weder die Existenz einer Exilregierung noch die ungeheuren Verluste an Menschen und Gütern verschafften Polen einen Platz am Beratungstisch der Anti-Hitler-Koalition. Von den Westmächten gedrängt, stimmte die polnische Regierung der Westverschiebung ihres Landes zu. Nach Stalins Plänen sollte Polen hierdurch in einen immerwährenden Konflikt mit Deutschland gebracht und an die Sowjetunion gekettet werden. Die Machtelite, die Polen seit 1948 unumschränkt regierte, sog aus dieser Abhängigkeit ihre einzige wirkliche Legitimation. Mit der Öffnung zum Westen befreite sich die polnische Gesellschaft von der scheinbar schicksalhaften Kettung an die Sowjetunion. Es ist in der Rückschau augenfällig, daß die vielfältigen Angebote an die Deutschen, über die deutsche Frage einen Dialog zu beginnen, bei uns kaum ein Echo fanden. Die Polen konnten eben zu keinem Zeitpunkt sicher sein, daß ihre Westgrenze von den beiden deutschen Staaten wirklich als endgültig akzeptiert wird. So muss die Verfahrensweise, mit der die deutsche Einigung international abgesegnet werden soll, für Polen alarmierend wirken. Einmal mehr wird von den Hauptmächten der Anti-Hitler-Koalition verhandelt, ohne daß eine Mitsprache Polens vereinbart wäre. So wächst in Polen die Furcht, man werde wieder Objekt der Großmachtpolitik.
Christian Semler, taz 16. 2. 1990