die taz vor 16 jahren über die ddr-regierung der „nationalen verantwortung“ :
Die „Regierung der nationalen Verantwortung“, die die DDR-Volkskammer gestern bildete, ist letztes Aufgebot und Vorbote des Neuen zugleich. Modrow hat ihre Notwendigkeit auf den folgenden Nenner gebracht: „Anders als in einer breiten Verantwortung kann die DDR jetzt nicht mehr regiert werden.“ Eine paradoxe Situation: Das Regime ist so am Ende, daß Vertreter der Bürgerrechtsorganisationen und der neuen Parteien seinen Absturz verhindern müssen.
Das Ziel dieser Regierung kann nur sein, in den nächsten Wochen irgendwie über die Runden zu kommen. Für die Bürgerrechtler und die neuen Parteien birgt das ein erhebliches Risiko in sich: Es besteht die Gefahr, daß sie mit in den Konkurs hineingerissen werden, indem sie künftig für die desolate Situation mitverantwortlich gemacht werden.
Die Entfremdung zwischen progressiv gesonnenen Bürgerrechtsaktivisten und national gestimmter Basis, zwischen Berlin und vor allem dem Süden der DDR könnte zunehmen. Die von Wolfgang Ullmann vor der Volkskammer erklärte Bereitschaft, zu „überlegen“, eventuell auch ein konkretes Ressort zu übernehmen, dürfte deshalb etwas vorschnell gewesen sein. Denn daran wären Erwartungen geknüpft, die in der zur Verfügung stehenden Zeit gar nicht mehr eingelöst werden können.
Die Sache hat aber auch noch einen anderen, vorwärts weisenden Aspekt: Zum ersten Mal wird ein deutscher Staat von einem Kabinett regiert, in dem immerhin zwei „Grüne“, drei Bürgerrechtsaktivisten und eine Vertreterin der parteiunabhängigen Frauenbewegung MinisterInnenrang haben. In dieser Zusammensetzung wird die Regierung gewiß keinen längeren Bestand haben, doch es könnte ein Vorzeichen darauf sein, daß auch in der künftigen DDR-Bürgerbewegungen einen weit stärkeren Einfluß haben werden, als dies analogen Bewegungen in der BRD bisher eingeräumt wurde.
Vielleicht könnte das ja zu einer wertvollen Mitgift der DDR in jenem deutschen Gesamtstaat werden, dessen Heraufkommen Hans Modrow in seiner Erklärung zu Beginn der Volkskammertagung als „unausweichlich“ bezeichnet hat. Sollte er Recht behalten – und kaum etwas spricht dagegen – dann wären die verschiedenen Bürgerbewegungen in beiden deutschen Staaten gut beraten, statt mit dem Ob dieses Prozesses zu hadern, sich über das Wie Gedanken zu machen. Teile der neuen DDR-Regierung könnten dafür als Anregung verstanden werden. Walter Süß, taz vom 6.2.1990