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Archiv-Artikel

die taz vor 14 jahren über die tödlichen schüsse auf wolfgang grams in bad kleinen

Es kann in einem Rechtsstaat einen schlimmeren Verdacht kaum geben, warnte vor Wochen der Republikanische Anwaltsverein: Wenn ein bereits wehrunfähiger Mensch durch Polizeibeamte zielgerichtet getötet wurde, dann bedeute dies, daß Todesstrafe in einem Akt der Selbstjustiz noch am Tatort praktiziert wurde. Die Mahnung der Juristen, daß eine mangelnde Aufklärung der Umstände der wilden Schießerei in Bad Kleinen das Recht der Öffentlichkeit auf die Kontrolle staatlichen Handelns in Frage stellt, fruchtete aber nicht. Die internationale Kommission zur Untersuchung der Bad Kleinener Geschehnisse kam nicht zustande. Über die Frage „Wie hält es der Staat mit seinen militanten KritikerInnen?“ soll nun entscheiden, aus welcher Distanz ein Bauchschuß auf das RAF-Mitglied Wolfgang Grams abgegeben wurde. Betrug diese weniger als 90 Zentimeter, wird gegen die GSG-9-Beamten weiter wegen Totschlags ermittelt, bleibt damit weiter vorstellbar, daß der wehrlose Grams von der Staatsmacht regelrecht hingerichtet wurde. War die Entfernung nur ein paar Zentimeter größer, wird nicht nur die Elitetruppe des BGS freigesprochen. Der Vorwurf, der Staat könnte sich quasi mit den Mitteln der RAF der RAF entledigen, wird in das Reich linksradikaler Phantastereien verwiesen. Die surreale Logik dabei: Der schlimme Verdacht wird mit der Behauptung entsorgt, daß er sich nicht mehr erhärten läßt – und das, wo doch die Behörden die Verantwortung dafür tragen, daß Indizien vernichtet wurden, die eine genaue Rekonstruktion der Todesumstände von Grams zugelassen hätten. So bleiben widersprüchliche Indizien und Aussagen. So wird sich nun jeder die ihm genehme Version zu eigen machen. Der eine wird von Mord, der andere von Selbstmord reden. Das gab es schon mal, 1977, als sich die genauen Todesumstände von Baader, Ensslin und Raspe nicht klären ließen. Schon vergessen, welche Bedeutung der damalige Glaubenskrieg hatte?

Wolfgang Gast, taz, 6. 9. 1993