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Archiv-Artikel

die taz vor 12 jahren über pauken und trompeten in russland

Gleichzeitig auf drei Bühnen, der politischen, der diplomatischen und der wissenschaftlich-historischen, wurde am Dienstag in Moskau ein und dasselbe Droh-Szenario variiert. Dem ukrainischen Ministerpräsidenten Martschuk wurde anläßlich ukrainisch-russischer Verhandlungen erklärt, daß Rußland das Sperrgebiet des Schwarzmeerhafens Sebastopol beanspruche und eine Neudefinition der 1991 abgegebenen Grenzgarantie nötig sei. Sprecher des Verteidigungs- wie des Außenministeriums legten zur gleichen Stunde dar, daß es Rußland unmöglich sei, an seiner „Südflanke“ die im Vertrag über die Abrüstung konventioneller Waffen bestimmte Obergrenze einzuhalten. Auf einer Konferenz über die „Lehren des 2. Weltkriegs“ rechtfertigte Verteidigungsminister Gratschow die russische Militärpräsenz innerhalb der GUS-Staaten: „Regionale Konflikte können der Funke sein, durch den der Brand eines großen Krieges ausbrechen könnte.“ Außenminister Kosyrew bediente die Pauke: „Es können aber auch Fälle auftreten, bei denen die direkte Anwendung von Militärgewalt zum Schutz unserer Landsleute im Ausland notwendig ist.“

Die neue russische Hegemonialdoktrin von der „besonderen Verantwortung“ Rußlands für das „nahe Ausland“ beginnt sich zu materialisieren. Dabei ist die Sorge um das Schicksal der Bürger russischer Nationalität nur ein Vehikel, um die nach 1991 unabhängig gewordenen Staaten wieder unter die russische Oberhoheit zu zwingen. […] Der Feldzug in Tschetschenien hat den oft widerspruchsvollen, oft lavierenden Aussagen russischer Politiker zum Selbstverständnis ihres Landes als Großmacht eine scharfe Kontur gegeben. Die russische Politik glaubt mit ihrer Linie der Mißachtung internationaler Verpflichtungen fortfahren und zugleich die ökonomisch für sie lebenswichtigen Beziehungen zum Westen aufrechterhalten zu können. Wie die Reaktionen westlicher Staatsleute beweisen, ein realistisches Kalkül. C. Semler, 20. 4. 94