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Archiv-Artikel

die taz vor 10 jahren über michail gorbatschow und die russischen präsidentschaftswahlen

Längst war er zu einer Gestalt der Zeitgeschichte geworden. Niemand hatte seine Ankündigungen, in die Politik zurückkehren zu wollen, mehr ernst genommen. Die Demokraten waren von ihm abgerückt, als er die Demokratie und die Wirtschaftsreformen nicht entschieden genug vertrat und versuchte, die Sowjetunion auch gewaltsam zusammenzuhalten. Sie wandten sich dem farbigeren Boris Jelzin zu. Michail Gorbatschow war bei den Demokraten nur noch schlecht gelitten.

Gorbatschow war im Sowjetapparat groß geworden, wie Jelzin. Wie dieser war er ein Machtmensch. Die Unterschiede aber sind beträchtlich: Es zeigte sich bald, daß Jelzin außer Kühnheit in kritischen Situationen keine intellektuellen und moralischen Reserven besaß. Wenn Gorbatschow Gewalt einsetzen ließ, um die UdSSR zusammenzuhalten, dann war dahinter noch eine politische Konzeption erkennbar. Die Blutbäder, die sein Nachfolger zu verantworten hat, lassen sich damit nicht mehr gleichsetzen.Wie Jelzin war auch Gorbatschow zum Schluß von einer dubiosen Kamarilla umgeben, die seine Realitätswahrnehmung beschädigte.

Eigentlich könnte Gorbatschow als Kandidat bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen einige Chancen haben. Jelzins liberales Prestige ist aufgezehrt, sein staatsmännischer Weitblick immer nur auf Krisen fixiert. Daß einige Demokraten jüngst zähneknirschend die Unterstützung Jelzins beschlossen, um einen kommunistischen Präsidenten zu verhindern, kam einer Bankrotterklärung gleich.

Auch Gorbatschow stellt sich nun als Bollwerk gegen eine Rückkehr der Kommunisten dar. Seine Kandidatur wird gleichwohl nur im Westen große Beachtung finden. In Rußland verabscheut man ihn, weil er das tat, was ihm die rechtsextremen Patrioten nun vorwerfen: die Einführung der Demokratie und die Auflösung der Sowjetunion. Es gibt offenbar nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera.Erhard Stölting, 2. 3. 1996