die stimme der kritik: Betr.: Eiswarnungen und Rindfleischschrecken
Jetzt geht es um die Wurst!
Es schmilzt. Und damit schwindet der Beweis, dass wir unbedingt eins unserer Sprichwörter ändern müssen. „Jetzt begibst du dich auf dünnes Eis!“ Dieses Wort taugt nicht mehr, um jemandem Gefahr anzuzeigen. Stattdessen müsste man sich neuerdings in irgendeiner Weise einer Wurst-Metaphorik bedienen.
Dünnes Eis jedenfalls, und darum geht es hier, hat nichts Schreckendes mehr an sich. Unsere Spaßkultur gleitet einfach darüber hinweg. Das ergeben intensive Recherchen, die wir kürzlich unerschrocken anstellten. Wir waren nämlich spazieren. Am Schlachtensee im idyllischen Berlin. Und vor allem auch auf dem Schlachtensee, das Gewässer war zugefroren. Tausende waren auch da. Schlittschuhfahrer. Eishockeyspieler. Kampfradler. Freizeitflaneure. Und in der Tat war es sehr schön – obwohl: Da und dort gab es eine eisfreie Stelle. Zum Rande hin war das Eis gebrochen. Und dann wunderte sich auch noch dieser Angler. „Dass da noch nichts passiert ist!“, rief er. Knapp zehn Zentimeter sei das Eis dick, und das auch nur an den dicksten Stellen. Ab dreizehn Zentimetern trage es erst. Also, er habe ja seine Spezialhose an, luftgefüllt, die werde ihn beim Einbrechen oben halten. Aber die ganzen Menschen hier, er blickte in die Runde: „Dass da noch nichts passiert ist!“
Wir also wieder runter vom Eis. Alle anderen aber blieben. Nur dass, und nun kommen wir auch schon zur Pointe, beim Tretbootverleih samt Imbiss niemand mehr Würstchen bestellte. Glühwein war gleich aus. Heiße Schokolade war auch bald weg. Aber Würstchen hätte man kiloweise bestellen können. Ganz Unerschrockene in der langen Schlange sahen sich zwar noch überlegend an. Jetzt eine schönes Würstchen? Aber ne, schließlich winkten alle ab. Die drei großen Buchstaben, die jeder im Kopf hatte, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.
Wir lernen: Dünnes Eis ist passé zum Angstmachen. Wurst ist in. Quod erat demonstrandum. Irgendjemand sollte mal Betrachtungen anstellen darüber, wie es einem medienvermittelten Rindfleischschrecken gelingt, unmittelbarer zu wirken als die reale Einbruchsgefahr unter den eigenen Füßen. Das machen wir bei Gelegenheit. Zunächst aber brauchen wir ein neues Sprichwort. „Jetzt begibst du dich in die Nähe der Wurst“ geht schließlich nicht. Aber: Jetzt geht es um die Wurst! Das wird noch mal ein Donnerwort sein, das nichts anderes als Furcht und Schrecken auslöst. DIRK KNIPPHALS
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