die stimme der kritik: Betr.: Bundeswehr-Reform
DAS UNIVERSALE LEGO-SYSTEM
Was haben Bundeswehr und deutsche Linke gemeinsam? Richtig: die Sinnkrise. Strategeme, Bewaffnung – alles veraltet, alles unbrauchbar. Aber im Gegensatz zur Linken gilt jetzt, nach dem Bericht der Weizsäcker-Kommission für die Armee: Wo die Sinnkrise dräut, wächst das Rettende auch. Vorbei die endlos sich hinschleppenden Jahrzehnte, wo ein Jüngling voll Tatendrang in die Bundeswehr eintrat, um dreißig Jahre später ohne jede Feindberührung im Majorsrang abzutreten. Im Besitz aller Glieder zwar, aber depressiv, Opfer der PTSD (post traumatic stress disorder), also jener Wunde, die von dem Feind herrührte, der nie kam.
Jetzt wird wieder Sinn geliefert Und diese Proliferation hat einen wunderbaren Namen, der nach dem Lego-System noch beliebig erweitert werden kann: „Krisenreaktionskräfte“. Statt des dünnen Restrisikos aus Russland, das Richard von Weizsäcker im letzten Stock des Sicherheitsgebäudes ansiedelte, lässt sich aus der Idee der Krisenreaktion eine ebenso universelle wie konkrete soldatische Aufgabenstellung ableiten. Denn wer würde bestreiten, dass die heutige Welt einem Flickenteppich von bewaffneten Konflikten gleicht und dass überall der helfende Arm der Bundeswehr fehlt?
Universal ist die Krisenreaktion nicht nur im politischen, sondern auch im moralischen Sinn. Sie verteidigt die Menschenrechte und folgt so dem Pfad, der uns aus dem klassischen Völkerrecht der Staaten zu einer internationalen Praxis führt, in deren Mittelpunkt der Schutz des Individuums steht. Bei der „Krisenreaktion“ harmonieren universelle Moral und nationales Interesse. Denn wer würde bestreiten, dass die Freiheit des Handels und der sichere Zugang zu Ressourcen nicht nur ein engherziges Bedürfnis Deutschlands spiegeln, sondern dem Wohl der Menschheit dienen? Zweiflern sei gesagt: Das Kommando über die Krisenreaktionskräfte bleibt in unseren Händen.
Krisenreaktion und Wehrpflicht dürfen koexistieren. Wer für die Abschaffung der Wehrpflicht eintritt, darf sich damit trösten, dass sie nach den Plänen der Weizsäcker-Kommission so gut wie erledigt ist. Auch mit diesem Vorschlag beweist die Krisenreaktions-Doktrin ihre friedensfördernde Kraft. CHRISTIAN SEMLER
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