piwik no script img

die stimme der kritikBetr.: Märkte und andere magische Weltbilder

Gott lässt sich nicht spotten!

Unser armer Euro. Erst hieß es, unser Autokanzler sei schuld. Er hat doch tatsächlich gesagt, das Euro-Schwächeln habe auch positive Seiten, nämlich verbesserte Exportchancen. Also schwächelte der Euro noch mehr. Kapital ist bekanntlich hymensensibel, wie Kelly Bundy sagen würde.

Vielleicht lässt schon morgen Joschka Fischer in der UNO oder sonstwo aus Versehen einen Furz und der Euro stürzt noch mehr ab. Oder er beginnt verrückt zu steigen – denn schließlich könnte diese, sonst als unpässlich empfundene, Ministerialflatulenz als unbedingter Ausdehnungswille der deutschen Volkswirtschaft und damit als deutliches Wachstumssignal interpretiert werden.

Wie dem auch sei, ich habe beschlossen, auch Analyst zu werden und ein Analysten-Start-up-Darlehen bei meiner Bank zu beantragen. Zur inneren Einstimmung begann ich, über das Wesen des Analysten an sich zu meditieren, und verstand, dass es sich bei dem vorgeblich rationalen Vorgang namens „Markt“ oder noch besser „die Märkte“ um eine neue (?) Religion handelt. Also besorgte ich mir das zwölfbändige Standardwerk von Kost/Analy „Kleine Einführung in die Naturreligionen“.

Wie bei allen magischen Weltbildern sind Tabus äußerst wichtig. Also niemals konkrete Akteure mit handfesten Interessen benennen. Man sollte keineswegs sagen, ein bestimmter amerikanischer Pensionsfonds rufe Kursschwankungen hervor, einfach weil er daran verdient. Stattdessen spricht man tunlichst von „den Märkten“, den „Anlegern“ , also von übergeordneten Naturgeistern.

Auch gilt, dass die Kapitalmärkte an sich das höchste Tabu darstellen. Niemals darf gefragt werden, ob es nicht vollkommener Unsinn sei, dass der Wert der Währungen, die doch eigentlich real erbrachte Wirtschaftsleistungen spiegeln sollen, immer mehr durch reine Spekulation bestimmt wird. Denn die Frage nach dem Sinn von Göttern markiert das Ende der Religion und ist daher mit dem höchsten Tabu zu belegen. Wenn etwa Lafontaine als Finanzminister wiederkäme und forderte, die Kapitalmärkte zu kontrollieren, so wären neue Euro-Tiefstände die Strafe.

Gott lässt sich nicht spotten. Alte Analystenweisheit. Wie beleidigte Regengötter eine Dürre verursachen, so können sich „die Anleger“ und andere Geister aus dem animistischen Reich der „Märkte“ ganze Kontinente ins Unglück stürzen. Sehr bewährt haben sich dagegen moralische Appelle, wie etwa „Zurückhaltung bei Lohnforderungen“. Meine erste Analystenanalyse lautet daher: Beten und arbeiten. REINER WAGENER

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen