die stimme der kritik: Betr.: Die neue Kleiderordnung
Aus Gründen der Gerechtigkeit muss man Anzüge tragen
Muss einen Anzug tragen, wer ein Genie ist? Nein. Albert Einstein, Strickpulli, Relativitätstheorie – Sie wissen schon. Braucht man einen Anzug, um erfolgreich große Politik zu machen? Wieder nein. Helmut Kohl, Strickjacke, Gorbatschow – heraus kam die deutsche Wiedervereinigung.
Nicht immer kommt die Wiedervereinigung heraus, wenn jemand eine Strickjacke trägt. Und genau das ist das Problem: Was ziehe ich an? entwickelt sich erneut zur wichtigen Frage, nachdem in der alten neuen Ökonomie junge T-Shirt-Träger und Kollegen im gedeckten Einreiher aufeinander treffen. Die Kleiderfrage ist komplexer geworden.
Grobe Rezepte helfen dabei wenig: „Männer in braunen Anzügen erzeugen Misstrauen“, klärt die US-amerikanische Imageberaterin Sherry Maysonave auf. Doch niemand hatte vor, einen braunen Anzug zu kaufen. Es geht um feinstofflichere Dialektik: Braucht man einen Anzug, wenn man keine tollen Ideen hat? Oder hat man tolle Ideen, wenn man keinen Anzug braucht? Das ist die Frage.
„Einen Anzug benötigt man nur, um Oberkellner zu werden“, lautet ein gängiger Witz im Silicon Valley. Soll heißen: Wer kreativ ist, muss keinen Einreiher tragen. Das Superhirn ist immer im Einsatz, den dazugehörigen Körper in Turnschuhen und T-Shirt mitschleppend. Wer in Kalifornien Internetmilliardär geworden ist, läuft ohnehin nur noch in Khakihosen herum, die nackten Füße in Bootsmokassins steckend. Der Freizeitlook ist die Verkleidung der Arbeitssüchtigen.
Doch inzwischen hat die Kreativität der Neuen Ökonomie ihre Grenzen erfahren: Viele der tollen Ideen in der Internetwirtschaft hat heute schon mal irgendwann ein anderer gehabt. Wie aber wirkt ein Mensch in Turnschuhen oder Bootsmokassins, der keine neuen Ideen hat? Eben.
„In den USA wird die Kleiderordnung im Job wieder straffer“, titelte jetzt die Wirtschaftswoche zum „Comeback“ für Anzug und Krawatte. Im Anzugtragen liegt nämlich eine große Gerechtigkeit: Auch wer nicht kreativ ist, sieht darin aus, als würde er heftig arbeiten. Demokratie ist im Anzug!
Das lässt Maysonave frische Empfehlungen aussprechen. Sie rät Aufsteigern neuerdings zum Anzug in Navyblau, dazu ein aufgerolltes langärmeliges Hemd, das verlange dem Umfeld „mehr Respekt ab“. Und darauf kommt es an, denn: „Kleiden Sie sich nicht für Ihren Job, sondern für den, den Sie haben wollen!“ Richtig. Alle andern machen es genauso.
BARBARA DRIBBUSCH
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