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die sache istHornfäden von Gewicht

Haare sind ein bedeutsames Kulturmittel. Mit einer Eigenhaar-Performance setzt sich Hendrik Quast in Hamburg mit Repräsentationspolitiken und Klassismus auseinander

Foto: Marianne Ernst/Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Haare sind eine haarige Sache. Schon dass man damit mehr sagt, als dass sie halt Haare sind, zeigt ihre kulturelle Bedeutung. Haare sind nicht einfach Hornfäden auf Säugetierhaut mit biologischer Funktion, sie sind ein komplexes, seit jeher bedeutsames Kulturmittel, das Identität und Gesellschaft miteinander verknotet. Haare sind Ausdruck individueller Persönlichkeit – und Spiegel gesellschaftlicher Normen und Erwartungen.

In verschiedenen Zivilisationen symbolisierten sie Macht, Status und Identität. Im alten Ägypten standen sie für Stärke und Würde, in Mesopotamien kennzeichneten Haare den sozialen Status. Für die Wikinger demonstrierte geflochtenes Haar Macht, in der griechischen Antike symbolisierten lange Haare das freie Denken. In der römischen Gesellschaft waren aufwendige Frisuren und blonde Perücken ein Zeichen von Wohlstand und Prestige.

Umgekehrt können sie Instrument von Ausgrenzung und Unterdrückung sein: Das Scheren des Kopfes ist historisch ein Mittel der Demütigung und Entmenschlichung, bei Sklaven in der Antike oder bei den Häftlingen in nationalsozialistischen Lagern: Anderen das Haar zu nehmen, verneint ihnen die Individualität und demonstriert Kontrolle über ihre Körper.

Wenn die Haare ausfallen, kann das tiefgreifende psychische Folgen haben, aber auch zu ganz realer Ausgrenzung führen. Studien zeigen, dass Menschen mit Haarausfall oft unter vermindertem Selbstwertgefühl und Depressionen leiden – je jünger, desto schlimmer. Einer Gesellschaft, die volles Haar mit Jugend und Attraktivität assoziiert, gilt seine Abwesenheit schnell als Anlass für Stigmatisierung und vermindertem Zugang zu sozialen und beruflichen Möglichkeiten.

Innerhalb dessen findet sich auch noch der Gender-Aspekt: In der abendländischen Kultur galt lange die Formel „Männer kurz – Frauen lang“. Frauenhaare wurden als Symbol ungezügelter Sexualität betrachtet und mussten bedeckt oder gebändigt werden; oder steht dahinter, dass sie sonst männliche Macht beanspruchen könnten?

Der Performancekünstler Hendrik Quast macht die kulturelle Bedeutung in seiner Performance „Hairkunft“ zum Thema, indem er sich selbst als „Klassenwechsler“ betrachtet: Seine Haartransplantation wird zu einem symbolischen Schritt, um im Kunstmilieu neue Rollen zu spielen, den eigenen sozialen Status zu sichern. Quast „flicht“ sich sozusagen ein in die komplexe Web­struktur gesellschaftlicher Erwartungen ans Haar als Ausdruck von Macht, Status und Identität.

Performance „Hairkunft“: heute, 19 Uhr, Hamburg, Kampnagel; weitere Termine: 7. 2. und 8. 2.

Seine Performance kombiniert Elemente aus Stand-up-Comedy, Musical, Body-Art und Crowdwork, um die widersprüchlichen Erfahrungen auf seiner queeren und schamvollen Klassenreise zu beleuchten. „Hairkunft“ hinterfragt den Preis sozialen Aufstiegs und gesellschaftlicher Konvention. Robert Matthies

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