die ortsbegehung: Die digitale Badeaufsicht
In einem Hamburger Hallenbad soll künstliche Intelligenz erkennen, wenn Menschen zu ertrinken drohen. Im Notfall reinspringen muss aber immer noch das Personal

Aus Hamburg Amira Klute
Ertrinken spielen ist gar nicht so einfach. Vom Beckenrand geben zwei Bademeister und ein ungeduldiger Pressesprecher Tipps: „Mit dem Gesicht nach unten, nicht bewegen“, sagt der erste. „Möglichst tot!“, der zweite. „Sie sind zu angespannt“, der dritte.
Hier im Bille-Bad im Hamburger Stadtteil Bergedorf überwacht aber noch jemand die Schwimmbecken: eine künstliche Intelligenz (KI). Ganz oben unter der Decke, wo die feuchte Luft am wärmsten ist, sind Kameras installiert, die pausenlos das Wasserbecken filmen. Diese Aufnahmen schicken die Kameras an eine selbstlernende KI-Software des israelischen Unternehmens Lynxight, das seine Technik folgendermaßen bewirbt: „Ihre Schwimmaufsicht jetzt mit übermenschlichem Sehvermögen und einem genialen Gehirn … ja, das geht.“
Heute will die taz bei einem Pressetermin das System auslösen. Es soll anschlagen, wenn Menschen so aussehen, als müssten sie gerettet werden. Dann bekommen die Bademeister:innen ein piependes und blinkendes Alarmsignal, direkt auf eine Uhr, die jede:r von ihnen am Handgelenk trägt. Die Technik wird im Bille-Bad seit Dezember vergangenen Jahres getestet. In anderen Bädern, unter anderem in Wiesbaden (Hessen) und Lippstadt (Nordrhein-Westfalen), ist sie schon länger im Einsatz. Hier in Hamburg-Bergedorf läuft die Testphase noch bis Sommer 2025.
Wenn es nach Michael Dietel, Pressesprecher des Hamburger Schwimmbadbetreibers Bäderland, geht, bleibt das System auch danach im Einsatz, dann am besten auch in allen weiteren städtischen Hallenbädern. Er ist begeistert und klingt dabei manchmal selbst ein bisschen wie der Werbespruch auf der Webseite von Lynxight.
„Ein Trapezkünstler hat ja auch ein Sicherheitsnetz“ sagt Dietel. Die Technik sei eine Unterstützung für die Schwimmmeister:innen, die naturgemäß nicht immer alle Becken überwachen könnten. „Ablenkungsmöglichkeiten gibt es viele.“ Zum Beispiel, wenn Oma Meier frage, wann die Rückendüse wieder angeschaltet wird. Mit der KI könnten die Bademeister:innen sich leisten, der Oma zwei, drei Sätze mehr zu widmen als ohne. Schließlich habe die Technik das Becken im Blick, auch wenn die Badeaufsicht mal im Gespräch ist. Die Technik sei daher gut für den „social aspect“ des Berufs, sagt Dietel.
Bislang ohne Ernstfall
Im Erlebnisbecken geht die große Düse an. Zwei weißhaarige Menschen pflügen sich halb gehend, halb schwimmend durchs Wasser, vorbei an der Kunststoffgrotte. Ein kleines Kind mit Schwimmflügeln schwebt neben erwachsener Begleitung durch den Nichtschwimmerbereich. Die vier sind an diesem Mittwochmittag die einzigen Badenden. Beobachtet werden sie von den drei kleinen Kameras unter der Decke. Sechs weitere Kameras filmen das anliegende 50-Meter-Becken.
Einen echten Unfall gab es während der Testphase noch nicht. Zwar gebe es ungefähr einmal pro Tag falschen Alarm. „Zum Beispiel wenn Menschen in der Düse rumhängen und sich länger nicht bewegen.“ Das werde aber seltener, denn das System lerne dazu, sagt Dietel. Beschwert hätte sich wegen der KI auch noch niemand. „Weder Gäste noch Mitarbeitende hatten Fragen“, sagt der Pressesprecher.
Es gibt aber auch Badegäste, die gar nicht mitbekommen haben, dass in ihrem Bad eine künstliche Intelligenz eingesetzt wird. „Ach nee“, sagt zum Beispiel eine Schwimmerin in der Umkleidekabine, die ihre Haare mit dem Handtuch rubbelt, als sie davon erfährt. „Dabei bin ich dreimal die Woche hier.“ Stören würde sie die Technik aber nicht, sagt sie.
Nur die Maschine darf gucken
Die Besonderheit
Im Bille-Bad in Hamburg-Bergedorf schwimmt es sich wie mit Netz und doppeltem Boden. Die Bademeister:innen werden nämlich von einer künstlichen Intelligenz unterstützt, die erkennen soll, wenn Menschen gerettet werden müssen. Noch bis Sommer 2025 wird die Technik getestet.
Das Zielpublikum
Schwimmer:innen – und Menschen, die gern künstliche Intelligenzen auf die Probe stellen. Voraussetzung fürs Testen ist mindestens Seepferdchen. Denn Achtung: Sie sollten sicher im Wasser sein, um beim Test nicht wirklich in Not zu geraten.
Hindernisse auf dem Weg
Datenschutzrechtliche Bedenken. Außerdem hinderlich sind allgemeines Unwohlsein in Gegenwart von Überwachungskameras und/oder von gechlortem Wasser.
Bevor das System in Betrieb genommen wurde, hat der Betreiber Bäderland einige Parameter angepasst. Anders als in Bädern in anderen Bundesländern werden die Aufnahmen der Kameras im Bille-Bad nur lokal und nur für 48 Stunden gespeichert. Sehen kann man sie aber sowieso nicht. Sie sind nur dafür da, dass das System sie analysiert. Nur bei einem Alarm macht die Kamera ein Foto, das dann, im Kleinformat, auf der Smartwatch der Bademeister:innen landet.
Wann schlägt die KI-Badeaufsicht denn jetzt eigentlich an? So ganz genau weiß das auch Michael Dietel nicht. Lynxight mache daraus eine Art Firmengeheimnis. Aber ziemlich sicher piept es, wenn Menschen plötzlich ungewöhnliche Bewegungen machen oder, sehr zuverlässig, wenn sich Menschen ungefähr 30 Sekunden lang gar nicht bewegen.
Beides ist im Wasser gar nicht einfach. Beim Pressetermin am Mittwoch schafft es am Ende nur eine professionelle Schwimmerin von einem Sportmagazin. Die taz-Performance hingegen überzeugt nicht: kein Alarm. Wie zum Trost sagt Bademeister Nummer zwei: „Ich wäre schon längst reingesprungen.“
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