die jazzkolumne: Ein 42 Jahre altes Foto und seine Spuren in Harlem
The Greatest Day Revisited
Wenn man aus Denardo Colemans Bürofenster schaut, sieht man den New-York-Central-Railroad-Bahnhof von oben. An der Brandmauer gegenüber steht „Qualitäts-Autowäsche ganz ohne Wasser“.
Es ist schwer zu sagen, in welchem Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts dieser Reklamespruch dort angebracht wurde, die dazugehörige Werkstatt sieht jedenfalls aus, als lägen ihre besseren Tage schon sehr, sehr lange zurück. Links ein Haus, dessen Obergeschoss eingestürzt ist. Aus diesem Fenster besehen macht der berühmte Stadtteil momentan nicht gerade viel her.
Im Eckhaus an der 125. Straße in East Harlem nehmen die zum Harmolodics-Studio gehörigen Räume etwa die Hälfte der sechsten Etage ein. Das Studio gehört Ornette Coleman und seinem Sohn, Manager und Schlagzeuger Denardo.
Am 9. März war Coleman, einer der großen Erneuerer der Jazzgeschichte, siebzig geworden, am Tag darauf hatte er im schick-exklusiven Joe’s Pub in Downtown Manhattan gefeiert. Dewey Redman, Stanley Crouch, Patti Smith und Charlie Haden zählten zu den zahlreichen Gratulanten dieses Abends.
Die letzte Neuveröffentlichung Colemans, „Colours“, eine Duoaufnahme mit dem Pianisten Joachim Kühn, erhielt vor zwei Jahren den Preis der Deutschen Schallplattenkritik, die Urkunde hängt heute eingerahmt in Colemans Studio. Im improvisierten Empfangsbereich des Studios ist eine bunte Maske an der Wand befestigt. Das Gesicht auf dieser Maske lächelt auch dann noch – oder besser gesagt wieder –, wenn man sie um 180 Grad dreht. Nachzuprüfen ist das bei der aktuellen Coleman-Re-Issue-CD „Dancing In Your Head“, denn ebendiese Maske ist auf dem Cover abgebildet.
Wenn man aus Colemans Büro nach rechts schaut, dann rückt die 126. Straße ins Bild. Auf dieser Straße, nur einige Häuserblocks weiter in Richtung Westen, trafen sich im August 1958 auf Initiative der Zeitschrift Esquire 57 Jazzmusiker für ein Foto, das im Januar 1959 in dem Esquire-Special „Golden Age Of Jazz“ erschien.
Dieses Foto, das unter dem Titel „A Great Day in Harlem“ bekannt wurde, ist bis heute das beeindruckendste Gruppenporträt der Jazzgeschichte geblieben. Die Zeitschrift Life veröffentlichte nach diesem Muster in den vergangenen zwei Jahren allein drei mehrseitige Fotoporträts: „The Greatest Day in HipHop“ (1998), „The Greatest Day in Doo-Wop“ (1999) und „The Greatest Day“ (1999), das 156 Rapper in Harlem zeigt, die alle ihre Kopfbedeckungen verkehrtrum tragen. Vierzig Jahre nach der „Great Day in Harlem“-Session recherchierte Life, wer von den damals siebenundfünfzig fotografierten Musikern noch am Leben war. Jene zwölf luden sie dann für ein Vorher-Nachher-Foto ein, das in der gleichen Aufstellung wie früher und an gleicher Stelle stattfand. Bis auf den Saxofonisten Sonny Rollins, der zu der Zeit gerade auf Europatournee war, kamen alle. Einer von ihnen, der Bassist und Hobbyfotograf Milt Hinton, feierte jetzt gerade seinen neunzigsten Geburtstag mit einem Konzert während des JVC-Jazzfestivals in New York.
Der einunddreißigjährige Saxofonist James Carter schwärmt in einem Harlemer Imbissrestaurant an der 125. Straße bei Hummer und Soda von einem soeben erschienenen Buch, in dem die Geschichte dieses Fotos von 1958 erzählt wird. In dem von Charles Graham und Dan Morgenstern herausgegebenen Buch „The Great Jazzday“ (Woodford Press 2000) wird jene historische Fotosession durch zahlreiche Abbildungen und Statements erinnert und dokumentiert. Hier erfährt man auch, dass Milt Hinton mit einer damals sehr seltenen 8-mm-Kamera unterwegs war und seine Frau Mona gebeten hatte, immer auf den Auslöser zu drücken, sobald sich einer bewegen würde.
Fast alle – Count Basie, Lester Young, Coleman Hawkins, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk – waren gekommen, lediglich Duke Ellington und Louis Armstrong konnten nicht. Charlie Parker war zwar drei Jahre zuvor gestorben, Art Kane, der Fotograf der Great-Day-Session, fuhr dennoch nach Kansas City, lieh von Parkers Mutter dessen Saxofonkoffer und fotografierte den vor Parkers Grab.
Anfang der Neunzigerjahre rekonstruierte Jean Bach die Vorgänge an jenem Morgen in Harlem für ihren Dokumentarfilm „A Great Day in Harlem“, der beim Chicagoer Filmfestival 1995 den ersten Preis gewann. Sie hatte dafür auch Dizzy Gillespie interviewt, der sich erinnerte, vor allem deshalb damals zu dem Fototermin erschienen zu sein, weil es die einmalige Chance gewesen sei, so viele bedeutende Musiker auf einem Haufen zu treffen, ohne zu einer Beerdigung gehen zu müssen.
In „The Great Jazzday“ erzählt Sonny Rollins, dass er damals auf der 137. Straße in Harlem wohnte und der Meinung war, dass Coleman Hawkins der größte Tenorsaxofonist aller Zeiten sei – bis er dann eines Tages Lester Young hörte. Young, so berichtet Rollins, sei einer von jenen Typen gewesen, die sich kleideten, die so gingen und auch so sprachen, als kämen sie von einem anderen Planeten. „Sie blieben hier nur für kurze Zeit und verschwanden dann wieder.“
Der Saxofonist und letzte noch lebende Jazzgigant Sonny Rollins, der zum Zeitpunkt des Fotos mit siebenundzwanzig Jahren der jüngste anwesende Musiker war, wird im September siebzig. Die gerade veröffentlichte 5-CD-Box „The Freelance Years“ dokumentiert den jungen Rollins Ende der Fünfzigerjahre, enthalten sind die legendäre „Freedom Suite“ wie auch Aufnahmen mit der Jazzsängerin Abbey Lincoln, die auch in diesem Jahr siebzig wird. Rollins ist heute einer der teuersten Jazzstars, am 5. August wird er auf der Damrosch-Park-Bühne am New Yorker Lincoln Center spielen. Der Eintritt zu diesem Konzert ist frei.
CHRISTIAN BROECKING
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