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Archiv-Artikel

die heimat im test. heute: rathenow und berlin von WIGLAF DROSTE

Um 22.12 Uhr sollte der Regionalexpress von Rathenow nach Berlin losfahren. Der Zug kam nicht – er lag, wie später zu erfahren war, „kaputt in Buschow“ und käme „heute nich’ mehr. Aba nach um ölwe fährt noch eena.“ So hatte ich leider Zeit in Rathenow.

Ich schulterte das Gepäck, um eine Gaststätte zu suchen. Es gab eine „Flippothek“ mit vielen Computerspielen und Rotamint-Automaten und ein „Warteraum“ genanntes Lokal, in dem man Wasser und Limonade trinken konnte – der Rathenower hat das Menschenrecht, abends etwas trinken zu dürfen, nach 1989 durch diverse Totschlägereien offensichtlich verspielt. Ich bestellte ein Wasser; zäh zertropfte die Zeit. So ging ich vor die Tür. Just in dem Moment kam ein großer Pick-up vorbeigefahren, militärisch in Tarnfarben gestrichen und mit zwei Jungmännerkahlköpfen auf den Vordersitzen. Sie kuckten beschissen und brüllten: „Ey!“ Ich ging zurück in den Warteraum und sah einem Taxifahrer dabei zu, wie er die Zeit mit Rauchen zu verkürzen suchte. Um ölw nach ölwe fuhr der Zug ab. In Berlin stand die Luft; was es zu atmen gab, war stickig und stank.

Am nächsten Morgen um zehn nach neun klingelte es. Ich wusste, wer mich weckte: der Vollziehungsbeamte vom Finanzamt. Berlin ist pleite, die co-regierende PDS lässt Schwimmbäder schließen, und mitten in der Nacht patrouillieren Politessen und verteilen Knöllchen. Weil das selbstverständlich nicht reicht, beschloss das Finanzamt, dass ich ganz allein die Stadt retten müsse. Auf mehr als 26.000 Euro per annum wurde meine Steuerlast taxiert, das sind über 500 Euro pro Woche! Nicht Einnahmen – Steuern! Die Sache war so ungeheuerlich, dass ich sie ignorierte. Das war ein Fehler.

Ich bekam Briefe ekelhaften Inhalts, abgefasst in ekelhaftem Ton. Sollte ich „in der Absicht, die Befriedigung des Gläubigers zu vereiteln, Bestandteile meines Vermögens veräußern oder beiseite schaffen“, würde ich „mit Freiheitstrafe bis zu zwei Jahren bestraft“. Welches Vermögen? Und musste ich den Gläubiger wirklich persönlich befriedigen?

Die Steuerberaterin erwirkte Ratenzahlung. Der Vollziehungsbeamte indes wurde nicht mehr zurückgepfiffen. „Das ist unser Druckmittel“, hatte der Bürokrat am Telefon zu ihr gesagt. So kam das Finanzamt in meine Wohnung. Es war männlich, etwas über 50 und trug Sandalen ohne Socken. Ich war empört. Wenn man von jemandem 5.500 Euro stehlen geht, kann man sich wohl vollständig anziehen. Ich gab dem Mann das Geld, er quittierte und sagte: „Und denn ßahlnse in ßukunft ma pünklich, wa!“ Es gibt nichts, was man darauf antworten könnte, jedenfalls nicht mit Worten.

Während ich überlegte, was widerwärtiger ist, Rathenower Glatzen oder der Vollzieher in Berlin, steckte er das Geld ein und ging. Bei mir im Dreh sind ein paar Jungs unterwegs, die sich sehr für anderer Leute Moneten interessieren. Ich Tünsel! Mit denen hätte ich reden sollen – die hätten dem Mann das Geld in null Komma nichts abgenommen, und hinterher hätten wir schön geteilt.