die hauptstadt von togo von JOACHIM SCHULZ :
Es ist der perfekte Tag: Die Sonne strahlt, und ich liege dösend in der Hängematte auf der Terrasse. Doch Glück und Glas sind zerbrechliche Güter, besonders dann, wenn man einen Freund wie Raimund zu Besuch hat, der auf einem nicht ganz so kommoden Plastikstuhl sitzt und in einer Zeitschrift ein Kreuzworträtsel gefunden hat. Bedauerlicherweise nämlich hält Raimund die Bearbeitung eines Kreuzworträtsels für eine sehr kommunikative Angelegenheit.
„Die Hauptstadt von Togo?“, fragt er. „Keinen Schimmer“, murmele ich. So leicht aber lässt er sich nicht stoppen. „Glaub ich dir nicht“, sagt er. „Pff …“, mache ich: „Ich glaube, Lomé.“ – „Prima!“, sagt er.
„Und Stadt in Nordrhein-Westfalen mit sechs Buchstaben?“, lässt er nicht locker. „Raimund!“, stöhne ich: „Du nervst!“ – „Och, komm schon!“, sagt er: „Du bist doch so gut in Geografie!“ Ich seufze erneut. „Na schön. Welche Buchstaben weißt du denn schon?“ – „Keinen.“ – „Keinen?! Hast du eine Ahnung, wie viele Städte mit sechs Buchstaben es in Nordrhein-Westfalen gibt?“ – „Nö“, sagt er: „Nenn mir halt eine davon!“ – „Hä?“ – „Dann lass ich dich in Ruhe.“ – „Also gut“, schnaufe ich: „Bochum zum Beispiel.“ – „Danke“, sagt er: „Jetzt lass ich dich in Ruhe. Versprochen! Ehrlich!“
Kaum fünf Minuten später aber hat er das wieder vergessen. „Hat Thomas Mann eine Tochter namens Uschi gehabt?“, fragt er. „Uschi?“, stöhne ich: „Nein.“ „Muss er aber!“ Ich ächze. „Wie viele Buchstaben?“ – „Fünf.“ – „Dann ist es Erika.“ – „Nein“, sagt er: „Der Name muss mit ‚U‘ anfangen. Mit einem ‚U‘ wie in ‚Tulpe‘.“ – „Vielleicht ist ‚Tulpe‘ falsch?“ – „Tja“, sagt er: „Kennst du eine andere Blume mit fünf Buchstaben?“ – „Wie wär’s mit ‚Nelke‘?“ – „O ja!“, sagt er: „Aber jetzt müsste sie ‚Eriki‘ heißen.“ – „Und woher kommt das ‚I‘?“ – „Südfrucht mit sechs Buchstaben – ‚Limone‘, dachte ich.“ – „Warte …“, überlege ich: „‚Banane‘!“ – „Falsch!“, kichert Raimund: „höchstens ‚Banone‘!“ – „‚Banone‘?“ „Das ‚O‘ aus ‚Bochum‘, du erinnerst dich?“ – „Herrgott, ich hab gleich gesagt, dass es im Westen tausend Städte mit sechs Buchstaben gibt!“ – „Zum Beispiel?“ – „Zum Beispiel?“, grübele ich, „Siegen zum Beispiel!“ – „‚Banine‘ …?!“
Ich richte mich auf. „Der zweite Buchstabe muss also ein ‚A‘ sein?“ – „So ist es!“ Ich gehe im Geiste Städte durch. Hagen – zu kurz. Hamm – noch kürzer. „Verdammt!“, knötere ich und stehe auf. Dortmund, Duisburg, Krefeld – alles Quatsch. Ich stapfe in die Wohnung, schlage den Atlas auf und geistere mit dem Zeigefinger durch Ruhrpott, Münsterland, Eifel. Da springt es mich an: „Aachen! Na klar!“, rufe ich und eile zur Terrasse zurück.
Als ich dort jedoch ankomme, ist Raimund nicht mehr an seinem Platz. Stattdessen hat er sich in der Hängematte ausgestreckt und gibt mir mit einem Haifischgrinsen zu verstehen, dass er diese gemütliche Lage vorerst nicht wieder aufzugeben gedenkt. Das Kreuzworträtsel liegt halb fertig auf dem Tisch. Auf „Aachen“ ist er inzwischen selbst gekommen. Und angesichts dieses Haifischgrinsens bin ich mir plötzlich sehr sicher, dass „Bochum“, „Banone“ und „Uschi Mann“ von Anfang an nichts anderes als wohlkalkulierte Finten in einer besonders abgefeimten Hängematteneroberungsstrategie waren.