die gesellschaftskritik: Liegen gelassen in der Linie 4
Während einer Straßenbahnfahrt offenbart sich die Ignoranz gegenüber Hilfsbedürftigen
Ein Mann um die 50 liegt auf dem Boden der Straßenbahnlinie 4 in Dresden und bewegt sich nicht. Ob er atmet, ist unklar. Es ist Freitagnacht, um diese Zeit ist die Bahn überfüllt mit motivierten Partygänger*innen, trotzdem sind die Plätze um den Mann herum nicht besetzt. Die Fahrgäste sitzen so, dass sie den Mann nicht im Blick haben müssen. Niemand scheint es zu interessieren. Die Bahn fährt zwei, drei Haltestellen, niemand tut etwas, ich versuche mit dem Mann zu sprechen, aber er antwortet nicht, nach zehn Minuten verständige ich den Fahrer.
Der hält die Bahn an, geht zu dem Mann, kümmert sich. Die Fahrgäste in der Nähe gucken plötzlich doch, und zwar ziemlich genervt wegen der Verzögerung. Dann: Entwarnung, ein scheinbar stark alkoholisierter Mann, hatte zu fest geschlafen. Aber das kann man ja nicht wissen, wenn man ihn da so liegen sieht. Vorher: ein demonstratives Wegschauen. Niemand fühlte sich verantwortlich. Diese Zurückweisung der Verantwortung im öffentlichen Raum ist symptomatisch für Dresden, für Deutschland im Allgemeinen. Nach dem Motto: Selber schuld, geht mich nichts an.
Eine Recherche der taz zeigt, dass 16 wohnungslose Menschen 2022 in Deutschland getötet wurden. Das ist eine Extremform der Gewalt. Doch Gewalt ist es auch schon, wohnungslose, suchtkranke, stark alkoholisierte oder unter Drogen stehende Personen in Momenten der Schwäche zu ignorieren, nur weil es bequemer ist, sich nicht mit gesellschaftlichen Realitäten abseits der eigenen Komfortzone auseinanderzusetzen.
Die Straßenbahnlinie 4 ist mit 29 Kilometern die längste in Dresden. Sie verbindet den Stadtteil Laubegast mit der von Subkultur geprägten Dresdner Neustadt, dem Arbeiterbezirk Pieschen und bürgerlichen Vororten wie Radebeul, wo es ein Autohaus gibt, das Ferraris verkauft. Die Linie durchfährt also auf ihrer Strecke die Lebenswelten unterschiedlicher Milieus, und wenn man es positiv sehen will, könnte man sie als Motor für ein besseres gegenseitiges Verständnis sehen, so wie auch andere öffentliche Verkehrsmittel, die als Bindeglieder innerhalb einer Stadt und zwischen Gesellschaftsschichten funktionieren.
Tatsächlich aber ist die Realität eine andere. Ich bin Hunderte Male mit der Linie 4 gefahren in den letzten Jahren, habe gesehen, wie Fahrkartenkontrolleure einen Geflüchteten rassistisch beleidigten und sich niemand einmischte oder wie eine Person eine andere zum Spaß mit Pfefferspray angriff und keiner helfen wollte. Das sind nur einige Beispiele, die zeigen: Die Linie 4, stellvertretend für viele andere öffentliche Verkehrsmittel, ist kein utopischer Raum, sondern einer, in dem sich die Ignoranz innerhalb unserer Gesellschaft spiegelt.
Johann Voigt
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