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die dritte meinungDeutschland leistet sich die dümmsten Debatten, kritisiert der Politologe Nikolaos Gavalakis

Es ist fast schon ein Volkssport: Debattieren über Nebensächlichkeiten, bis keiner mehr weiß, worum es eigentlich geht. Kaum sagt jemand etwas Unbequemes, schaltet das Land binnen weniger Stunden kollektiv in den Skandal-Modus. Wir führen keine Debatten mehr, wir veranstalten moralische Kostümfeste ,und der Ablauf folgt stets derselben Dramaturgie: Einer provoziert, die Gegenseite hyperventiliert – und die Substanz bleibt auf der Strecke.

Nehmen wir die jüngste Debatte um Friedrich Merz’ „Stadtbild“-Äußerung. Sie war pauschalisierend, überspitzt, ohne Kontext. Aber anstatt nüchtern zu widersprechen, kam der gewohnte Reflex: „Rassismus! Nazi!“ Zack, Diskussion beendet. Und das, obwohl hinter Merz’ plumpem Satz ein reales Problem steckt: Die meisten sehen irreguläre Migration kritisch. Nur hätte der Kanzler sich und uns allen einen Gefallen getan, wenn er nicht suggeriert hätte, das Migration zwangsläufig dazu führe, dass sich Menschen auf den Straßen unwohl fühlen. Empört wird sich in den Debatten selten über das, was jemand wirklich gemeint hat, sondern über das, was man hören will, um sich zu empören. Es geht nicht um Argumente, sondern um das Ritual. Man legt dem anderen das Schlimmstmögliche in den Mund und klopft sich anschließend selbstzufrieden auf die Schulter. Mit einem ehrlichen Meinungsaustausch hat das wenig zu tun. Und all das findet in einer Blase statt, die mit der Mehrheit immer weniger zu tun hat. Die meisten Menschen im Land haben andere Sorgen: steigende Lebenshaltungskosten, fehlende Ärzte, kaputte Schulen. Während um Wörter und Empfindlichkeiten gestritten wird, hat sich die politische Debatte längst von der Lebensrealität vieler Bürger entkoppelt. Migration ist dafür das beste Beispiel. Sie wird entweder verklärt oder verteufelt. Die einen wollen offene Grenzen für alle, die anderen am liebsten Mauern und Stacheldraht. Dazwischen gäbe es reichlich Platz für Vernunft: illegale Migration begrenzen, Straftäter abschieben, qualifizierte Zuwanderung fördern, Integration endlich ernst nehmen. Stattdessen wird alles in denselben Topf geworfen – Asyl, Arbeitsmigration, Fachkräftebedarf – und so lange umgerührt, bis am Ende nur noch Empörung übrig bleibt. Beim Verbrenner-Aus das gleiche Spiel, ebenso bei der Rentendebatte.

Und dann das Lieblingsgespenst der Republik: die AfD. Seit zehn Jahren wächst diese Partei. Und seit zehn Jahren reagiert das politische Establishment mit denselben Rezepten: Empörung, Ausgrenzung, Verbotsfantasien. Hat bislang nicht funktioniert – und wird es auch künftig nicht tun. Das Gerede von der „Brandmauer“ hilft der AfD mehr als jede Kampagne. Es zementiert die Vorstellung einer abgehobenen Elite, die mit der Realität des Alltags nichts mehr zu tun hat. Dass die Brandmauer längst mehr Symbol als Strategie ist, scheint niemanden zu stören.

Nikolaos Gavalakis

ist Politikwissenschaftler, Journalist und Chefredakteur des IPG-Journals für Internationale Politik und Gesellschaft.

Diese Debattenkultur hat eine Ursache: Moral hat die Analyse ersetzt. Wer differenziert, gilt als weich. Wer übertreibt, bekommt Applaus. Und wer versucht, beides zu verbinden – Vernunft mit Haltung –, wird von beiden Seiten beschimpft. So funktioniert keine demokratische Streitkultur, sondern Erregungstheater. Deutschland leistet sich die dümmsten Debatten – weil es sich den Luxus leistet, nicht ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Dabei wäre genau das nötig: weniger Schaum vorm Mund, mehr Substanz im Kopf.

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