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Archiv-Artikel

die clubkolumne Als wenn House nie passiert wäre

Jetzt einsteigen!

Zuerst kam ein langer Sermon: „Ich war da, 1968, bei der ersten Can-Show, in Köln. Ich war da, als Captain Beefheart seine erste Band gründete, ich sagte, mach das anders, so wirst du keine Kohle machen. Ich war da, ich war der erste Typ, der Daft Punk für die Rock Kids spielte, im CBGB’s. Jeder dachte, ich wäre verrückt. Ich lag niemals falsch. Ich war da, in der Paradise Garage, in der DJ Box mit Larry Levan. Ich war da, in Jamaika in der Zeit der großen Soundclashes. Ich bin aufgewacht, nackt, am Strand von Ibiza 1988 […] Ich hörte, du hast eine Compilation mit jedem guten Song, den jemals jemand gemacht hat. Jeden guten Song von den Beach Boys, alle Undergroud-Hits, die ganzen Modern-Lovers-Tracks. […] Ich hörte, in deiner Band haben sie die Gitarren verkauft und Plattenspieler gekauft. Ich hörte, in deiner Band haben sie die Plattenspieler verkauft und Gitarren gekauft. Ich hörte, dass jeder, den du kennst, relevanter ist als jeder, den ich kenne …“

Dann ein Hagel von Namen: „This Heat, Pere Ubu, The Human League, The Normal, Lou Reed, Scott Walker, Joy Division, Eric B und Rakim, Basic Channel, Soul Sonic Force, Gil Scott Heron, The Slits, Soft Cell, Sexual Harrasment, Mantronix, The Sonics.“ Gefolgt von der Feststellung: „Du weißt nicht, was du wirklich willst.“

Ich hatte gerade zum ersten Mal „Losing My Edge“ vom LCD Soundsystem aus New York gehört und dachte: „Fuck, yeah.“ Die Musik dazu war ein kickendes Amalgam aus Discoboogie und Punkrock, mit verzerrtem Bass und dreschenden Drums, aber funky gefiltert und genial ins Gesicht gespuckt. Die konsequente Antwort auf 40 Jahre Trainspotting, Nerdism und Geschmackvollizität.

Die Stimmung, die „Losing My Edge“ vermittelt, repräsentiert eine beträchtliche Strömung in der derzeitigen internationalen Discopolitik: Rotz und Trotz statt Harmonie wie nie. Denn irgendwie hat es sich ausgehoust. House muss erst ein wenig ruhen, um wiedererweckt zu werden. Was sich am fernen Horizont allerdings bereits andeutet. Schon erscheinen erste Tracks etwa von den Chicken Lips, die die unwiderstehliche Primitivität früher Chicago-Trax um 1986 für die Jetztzeit optimieren.

Zur Stunde herrscht aber in gewissen Städten, an gewissen Orten noch exakt 1981: Die junge, punkige New Yorker Downtown-Kunst-Boheme flirtet nach links mit der schwulen, schwarzen Underground-Discoszene Manhattans, nach rechts mit der straighten, schwarzen HipHop-Szene aus Brooklyn, Queens und der Bronx. Aids ist nahezu unbekannt. Der Kalte Krieg angenehm warm. Einige wichtige Bands und Platten entstehen in diesem hochhedonistischen, aber auch kreativ vibrierenden Spannungsfeld. Semi-obskures Zeug wie die Bush Tetras, ESG, James White & The Blacks, Sexual Harrassment. Die Wut und Energie von Punk mit der existenziellen Lebensfreude von Disco unter den gemeinsamen Nennern Kunst und Sehnsucht zu paaren war nicht jedem gegeben und fand letztlich auch nur mäßigen Anklang, bei den Punkrockern wie bei den Discotypen. Nur Leute, die relevantere Leute kennen als alle Leute, die du kennst, kannten diese Leute.

Es bedurfte 15 langer Jahre versöhnlicher Housemusic, um diese Option wieder attraktiv zu machen. Oder, wie es Simon Reynolds mal formuliert hat: „Es geht nicht darum, die 80er zu revivalen, sondern die 90er zu beenden.“

In 2003 kann man sagen, dass dies weitgehend gelungen ist. Als „Losing My Edge“ vor über einem Jahr bei dem kleinen New Yorker Label DFA – angeblich die Abkürzung für Death From Above – erschien, verursachte dies kaum wahrnehmbare Erschütterungen. Es folgte ein Remix für die Punkband Le Tigre, und man begann auf Tim Goldsworthy und Jack Murphy – The DFA – ernsthaft aufmerksam zu werden. Als Nächstes produzierten sie The Rapture und das Album der Band Radio 4, einer dieser neuen New Yorker Rockbands im Sog der Strokes, aber mit einem Future-retro-Sound, wie ihn vorher nur Philip Zdar bei Phoenix hingekriegt hatte. The DFA verhielten sich plötzlich zu den Neptunes wie Arthur Baker zu Marley Marl.

Parallel dazu der Aufstieg des Brooklyner Projekts Metro Area: Musik, als hätte man sie schon immer geahnt. Dazu ein Strom von Compilations. Jetzt hat auch noch der seit seiner Exhumierung von „Sunglasses At Night“ notorische kanadische Tiga auf K!7 einen eklektischen Mix veröffentlicht und wird damit voraussichtlich derb abräumen. Ein Sound, der vor ein paar Monaten noch eine vage Ahnung war, manifestiert sich als solides Standbein dutzender DJs. Wäre dies die Börse und ich Spekulant, würde ich sagen: Jetzt einsteigen!

Das Komische ist: Man kann den Stücken manchmal wirklich nicht mehr die Zeit und den Kontext anhören, aus dem sie sind. Die Illusion ist perfekt wie ein tiefer Traum. Ob das von Vorteil ist im Hinblick auf den Fortschritt? Auf jeden Fall verkörpert ein Typ wie Tiga genau das, was sowohl Deep House wie Minimal Techno immer gemieden haben und wonach man jetzt wieder dürstet: Extrovertiertheit (statt Kontemplation), grelle Exzentrik (statt Aufgehen im Ganzen), Freude an Feedback und Dissonanzen, musikalisch wie gesellschaftlich. Superstars eben, aber solche, wie sie nicht das Fernsehen auskotzt. HANS NIESWANDT