die Wahrheit: Sein letzter Böller
Der Superkracher – Er sammelte den Sprengstoff für höhere Zwecke. Doch dann lockte ein Angebot, dem er nicht widerstehen konnte
Manchmal träumte Uwe von gigantischen Explosionen. Er hörte ein Donnern, das von Horizont zu Horizont rollte. Es grollte hinauf bis in den Weltraum und hinab bis in den glühenden Kern der Erde. Ein Knall, der nie verhallt, ein Geräusch, laut genug, um alle Katzen, Hunde und alten Knacker der Welt in namenlosen Schrecken zu versetzen. Für einen Jungen von elf Jahren waren das recht ungewöhnliche Träume. Kurz vor Silvester hatte Uwe überhaupt keine anderen Träume mehr. Da war jedes Mal ein Blitz, den Blinde sehen, ein Krach, den Taube hören konnten. Und wenn er aufwachte, hatte Uwe etwas Feuchtes in der Hose, das er für Pipi hielt.
Mit acht durfte Uwe zum ersten Mal selbst einen Chinakracher anzünden. Er hatte eine Mordsangst. Doch zum Glück ging alles gut, und zur Belohnung hatte sein Vater ihn eine Woche lang nicht verhauen. Kurz darauf war Papa ausgezogen, und Uwe sah ihn nie wieder. Mama weinte seither viel, wenn das Jahr wechselte. Sie kümmerte sich dann kaum darum, was ihr Sohn trieb.
Er strolchte auf den Straßen herum und beobachtete die angetrunkenen Großen beim Abbrennen des Feuerwerks. Als sie weiterzogen, sammelte er rasch die Blindgänger ein. Es gab immer welche. Lunten wurden nass, weil es regnete oder der Schnee so hoch lag. Oft fielen sie einfach aus der Sprengstange heraus. Er sammelte so lange, bis er vor Kälte und Müdigkeit nicht mehr konnte. Am Neujahrsmorgen ging er die Strecke ein zweites Mal ab und sammelte weitere Krepierer. Die Beute lagerte er in einer dunklen Kellerecke und ließ sie trocknen, bis sie zu knistern schien. Dann schnitt er die verreckten Böller auf und ließ das Schwarzpulver in eine Blechdose rieseln. Uwe sammelte den Sprengstoff für höhere Zwecke.
Seine erste selbstgebastelte Bombe riss den Briefkasten von Frau Carstens entzwei. Die zweite - er war zehn und hatte einiges dazugelernt - blies das Gewächshaus im Garten der Ockerts in Stücke. Der Böller, den er in diesem Jahr gebastelt hatte, sollte den Müllcontainer des Supermarkts zerfetzen. Mit etwas Glück würden außerdem ein paar Fensterscheiben draufgehen. Aber Uwe musste natürlich auch ans nächste Jahr denken. An den Treppenaufgang im "Haus Lebensabend", wo seine Mutter putzen ging, an die herrlichen Echos dort und an all die schreckhaften alten Knacker.
Also schlich er an diesem Silvesterabend wieder durch die Straßen, beobachtete, wie die Betrunkenen ihr Feuerwerk verschleuderten, und sammelte ein, was sie achtlos hinter sich ließen. Er war so in seine Mission vertieft, dass er nicht die schweren Schritte hörte, die sich ihm näherten. Aber er hörte die Stimme: "Bumm." Sie klang wie ein Kanonenschlag im Gulli. "Erwischt. Rotzbengel." Uwes Hand fror ein. Der Rohrkrepierer in seinen kalten Fingern wog plötzlich Tonnen. Er wagte nicht sich umzudrehen.
"Blindgänger sammeln, was? Kleiner Bombenbastler, wie?" Die Stimme klang überhaupt nicht freundlich. Uwe merkte, wie es zwischen seinen Beinen feucht und warm und im nächsten Moment eiskalt wurde. Diesmal war es tatsächlich Pipi. Er sagte nichts. "Ein Vorschlag, Jungchen", sagte die Stimme. "Ich geb dir einen Böller, wie ihn noch keiner gehabt hat. Den Kracher aller Kracher. Aber dafür verlang ich was." Uwe flüsterte: "Was?" Die Stimme erwiderte: "Deine Hände." Uwe sagte: "Erst will ich den Böller sehen."
Etwas Großes klatschte zu Boden und bespritzte den Jungen mit Dreck und Eis. Es war ein Kanonenschlag, glutrot, dick wie ein Männerschenkel, mit einer langen wasserfesten Lunte. Uwe hatte von solchen Höllenknallern auf dem Schulhof gehört, wenn die Großen sich unterhielten. Sie sprachen von "Witwenmachern". Die Stimme sagte: "Irrtum, Jungchen. Das ist ganz bestimmt kein billiger Polenböller. So was kriegst du auf der ganzen Welt nicht noch mal. Also? Steht unser Handel?" Uwe lief etwas Spucke aus dem Mund. In seinem Kopf war ein Blitz, der Blinde blendet, ein Knall, der Tauben in den Ohren klingt, und er wusste kaum noch, was der Fremde von ihm verlangte. Sein Handy? Er hatte doch gar keins. Aber egal, er würde eins besorgen. "Ich hab nicht ewig Zeit", dröhnte die Stimme, "wie ist es?" Uwe nickte.
Und im nächsten Moment gehörte ihm der mächtigste Silvesterkracher der Welt. Aber leider hatte er keine Hände mehr, um ihn anzuzünden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“