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der rote fadenSchaurige und schöne Sätze in dieser Woche

Foto: David Oliveira

Durch die Woche mit Ebru Tasdemir

Wir spielen ein Spiel, okay? „Unser altes System funktioniert nicht mehr, wir brauchen einen neuen Start.“ Von wem stammt wohl dieser Satz? Raten erlaubt, am Ende gibt es nichts zu gewinnen, aber wir haben uns ein wenig die Zeit vertrieben. Einverstanden? Gut.

Also: Könnte der Satz so a) von jungen Klimaaktivist*innen im Verbund mit Klimaforscher*innen stammen, angesichts der Tatsache, dass jetzt mal, also jetzt wirklich mal, ein Umdenken in der weltweiten Politik und in der Wirtschaft kommen sollte, und nichts passiert so richtig? Dass das alte System nicht mehr funktioniert oder sich schon längst verabschiedet – wie die dramatisch-wirkungsvolle Titelzeile „Die Schlacht ist verloren“ auf Spiegel Online am Donnerstagabend angesichts der schwindenden Eisdecke in der Arktis suggerierte –, verspricht nicht wirklich einen Neustart, also scheidet das schon mal aus.

Oder stammt dieser Satz vielleicht b) vom Chefvirologen Prof. Dr. Christian Drosten, der in der Wochenmitte noch vielerorts mit „Jetzt geht’s los“ zitiert wurde, na ja, so ähnlich zumindest. Aber es war kein nur auf Deutschland gemeinter Startschuss der zweiten Coronawelle, wie er dann nochmals die Presse im ZDF korrigieren musste.

Quiz

Vielmehr sagte er: „Wir müssen, um in den kommenden Monaten die Situation zu beherrschen, Dinge ändern.“ Und weiter: „Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen. Auch bei uns.“ Deutschland, Glück gehabt! Und vielleicht auch weiterhin, aber nichts bleibt so, wie es ist.

Klar, angesichts der wachsenden Coronafallzahlen zum Herbst könnten einige auf den Tisch hauen und sagen, Mensch, Party Party, schlussausvorbeihier mit Party! Tanzen, biste bekloppt, wenn du jetzt unbedingt Hochzeit oder Geburtstag feiern oder Fußi gucken willst, dann mach das nicht jetzt. Das neue System impliziert vielleicht zeitweise Alkoholverbote und partielle Schließungen von Bezirken oder Landkreisen, aber dass deshalb eine Systemauffrischung frisch und fröhlich wie im Eingangssatz angekündigt würde, das hätte Prof. Drosten niemand so abgenommen, oder? Vielleicht scheidet er dann wohl als Zitatgeber aus.

Versuchen wir es mit der EU oder c) deutlicher mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die mit dem Satz eine neue Ära, oder noch euphemistischer, einen „frischen Start zur Migration in Europa“ verkünden will.

Drosten

Was will dieser Satz? Resette das olle System; ein neuer Start ist doch schön, weil es das alte vergessen machen kann und Anfängen doch immer ein Zauber innewohnt. Du oder Sie und ich, wir könnten so einen Satz überall und immer verwenden, bei Freunden, in der Familie, auf Elternabenden, bei Arztbesuchen könnten wir ihn sagen oder zu hören bekommen. Ah, da meint es jemand gut. Klar, das alte System, wenn es nicht mehr funktioniert, dann muss doch wirklich ein neues her.

Doch wie kaltschön dieser Satz klingt, wenn er den neuen Migrationspakt ankündigt. Das alte System brennt gerade in Moria. Und endet immer und immer wieder im Meer. Es wartet in zivilen Seenotrettungen auf ein würdiges Leben, auf denen sich aus Verzweiflung Menschen ins Meer stürzen, weil das Schiff, welches sie vor dem Ertrinken rettete, an keinem Hafen anlegen darf.

Dieses System funktioniert wirklich nicht mehr. Mehr als zynisch also, das System der unterlassenden Hilfeleistung mit einem „Neustart“ verschlechtern zu wollen. Abschieben statt Aufnehmen hört sich natürlich nicht so werbemäßig frisch an, wenn mensch sich mal die Idee hinter diesem Neustart anschaut.

Reset

Eine noch härtere europäische Abschottungspolitik kommt. Die Festung Europa zieht die Zugbrücke auf. Klar, wie soll sich dieses Ländergeflecht EU denn auch die ganzen flüchtenden Menschen vom Hals halten. Ohne Werbesprech von System und Neustart kann diese brutale Idee kaum zu verkaufen sein.

Oder ist es d): Auch wenn es im Kapitalismus kein Tauschgeschäft an sich gibt, sondern nur Kaufen und Verkaufen, so ist doch das Nachdenken über den Kapitalismus von einem, der eine Menge mächtiger Kapitalisten kennt, hm, interessant? Vor allem, wenn derjenige in einem nahezu methusalemischen Alter (82!) ein Buch dazu herausbringt und in einem Interview mit Zeit Online in dieser Woche vom Ende des Neoliberalismus spricht. Potzblitz! Lesen kann man ihn dort mit dem Satz: Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung.“ Sein Buch, welches Ende September erscheinen wird, heißt übrigens „The great reset“, pruust. Ein Fest für alle Verschwörungstheoretiker.

Zugbrücke

Auflösen muss ich dann wohl noch: Bingo, es ist Ursula von der Leyen und diejenige, die diesen Satz laut und deutlich ausgesprochen hat. Ein ganz schön schlimmer Satz: „Unser altes System funktioniert nicht mehr, wir brauchen einen neuen Start.“ Danke fürs Mitspielen.

Nächste Woche Johanna Roth

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