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der rote fadenCorona-Zeugnisse, Biergärten und Biowürstchen

Foto: H. Schild-Vogel

Durch die Woche mit Nina Apin

Geschafft, das Schuljahr ist um. Mitte der Woche, dieses Jahr nacheinander, je nach Gruppe und Jahrgang, haben die Schülerinnen und Schüler ihre Zeugnisse bekommen.

Doch die richtige Das-Eis-ham-wir-uns-jetzt-verdient-Stimmung wollte sich trotzdem nicht einstellen. Denn irgendwie war ja wenig los gewesen in Sachen schulischer Stoffvermittlung und Leistungskontrollen, und eigentlich bewerten diese Corona-Zeugnisse eher die Funktionsfähigkeit von Familien – einerseits. Andererseits wissen alle, dass die Lehrkräfte angehalten waren, die Noten aus dem letzten Halbjahr zur Grundlage zu nehmen – mit der Ansage, dass sich kein Kind verschlechtern dürfe. Das ist im Sinne der Gerechtigkeit auch gut, denn Kinder, deren Familien nicht „homeschooling“-kompatibel sind, waren schon genug benachteiligt.

Ferien

Nur: Halb geschenkte Siege sind auch nur die Hälfte wert. Ich erinnere mich noch an das einzige Mal, als ich bei den Bundesjugendspielen statt einer Sieger- eine Ehrenurkunde bekommen hatte. Im Bus auf der Heimfahrt wurden Punkte gezählt, und dabei kam heraus, dass ich die Urkunde nur deshalb erhalten hatte, weil sich der ­Sportlehrer verzählt hatte. Zurückgegeben habe ich sie zwar nicht, aber die Urkunde verschwand zügig ganz unten in einer Schreibtischschublade.

Jedenfalls feierten sehr viele Berliner Familien den Übergang von „Kinder zu Hause mit Unterricht“ zu „Kinder zu Hause ohne Unterricht und Eltern leider noch keinen Urlaub“ mit ausgedehnten Biergartenfestivitäten. Schlange stehen mit Maske, an den Biertischen alles wie sonst, mit minimal mehr Abstand – und wie immer mit ordentlich Fleisch auf dem Teller.

Feste

Pro Jahr essen die Deutschen durchschnittlich 60 Kilo Fleisch. Dabei müsste auf jedem Nackensteak und an jeder Wurst, die ausgegeben wird, ein Warnhinweis stehen: „Dieses Nahrungsmittel gefährdet die Bildungschancen und die Lebensgrundlage Ihrer Kinder.“ Wenn die nächste Billigfleischfabrik wegen massenhafter Coronavirusinfektionen geschlossen wird, dann müssen es als Erstes wieder die Kinder ausbaden: Schulen geschlossen, Freizeiteinrichtungen dicht.

Wie der am Dienstag vorgestellte nationale Bildungsbericht zeigt, ist die Zahl der SchülerInnen, die ohne jeden Abschluss die Schule verlassen, von 5,7 Prozent im Jahr 2013 auf 6,8 Prozent gestiegen. Und da ist die zu erwartende Corona-Delle noch nicht mal mit drin. Noch so ein verlorenes Halbjahr kann sich niemand leisten.

Fleisch

Was das Nackensteak noch schlimmer macht: Der Co2-Ausstoß, der in ihm steckt, ist riesig. 60 Millionen Schweine werden in Deutschland pro Jahr geschlachtet. Gegen das, was dabei in die Atmosphäre gepumpt wird, ist die Kohleindustrie die reinste Vorzeigebranche. Die wurde jetzt mit dem Kohlevertrag zu einem sanften Ausstieg überredet. Ob es wirklich eine so lange Übergangsfrist und so umfangreiche Entschädigungen für die Energiekonzerne hätte geben müssen, darüber kann man streiten. Aber wann kommt endlich der Billigfleischausstieg?

Jetzt, mit der virologischen Gefahr im Nacken, wäre doch eigentlich der perfekte Zeitpunkt, dieses System, das Tiere quält, Menschen ausbeutet, die Natur zerstört und dick und krank macht, gründlich umzubauen. Aber dafür müsste das Fleisch für Verbraucher mindestens dreimal so teuer werden. Und das hat noch weniger Chancen als die Forderung nach einem Tempolimit auf Autobahnen.

Frischkost

Warum sind die Leute eigentlich so versessen auf diese Fleischmassen? So totgewürzt und voll von nichtfleischlichen Zutaten, wie die meisten Grillprodukte sind, könnte man auch aus Lupineneiweiß Würstchen und Schnecken formen, und es würde geschmacklich nicht weiter auffallen. Und die Zeiten, in denen Fleisch Zeichen von Wohlstand war, und sein Verzehr Zugang zur besseren Gesellschaft signalisierte, sind auch längst vorbei. Je höher der Bildungsgrad und das Einkommen, desto weniger Fleisch wird heute gegessen. Das neue Distinktionsmerkmal sind kleine, teure Biofleischstücke von der Schwäbisch-Hällischen Sau oder dem Wagyu-Rind. Da kommt man mit der marinierten Hähnchenbrust oder dem Bratbruzzler XXL vom Discounter niemals ran. Auch physiologisch hat der Hunger auf große Fleischmengen keinen Sinn: So ziemlich jedes Stück Käse und jeder Salat bietet bessere Eiweiße, Aminosäuren, Mineralien oder Vitamine. Der Eisengehalt kann es auch nicht sein. Vor allem Männer essen viel Fleisch, obwohl Frauen, die öfter an Eisenmangel leiden, den Fleischhunger haben müssten.

Es muss also etwas anderes sein. Vielleicht ein Bedürfnis danach, sich Stärke zuzuführen. In einer Welt, die einen sich schwach und bedrängt fühlen lässt. Wenn ich auf diese Woche zurückblicke, könnte ich zwei kleine Biobratwürstchen eigentlich ganz gut vertragen.

Nächste Woche Ariane Lemme

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