der rote faden: Brandgeruch über Berlin und Zunder in Brüssel
Durch die Woche mit Nina Apin
Für mich fühlte sich die vergangene Woche an, als sei ich aus einem Tunnel aufgetaucht. Die letzten sechs Monate hatte ich mich, buchbedingt, mit einem einzigen Thema befasst: dem der sexuellen Gewalt an Kindern. Nachrichten und Enthüllungen, mit denen ich meinen Tunnelblick füttern konnte, gab es genug: Neue Studien zum Missbrauch in der DDR, Streit über die Aufarbeitung in der katholischen Kirche, der Campingplatz-Skandal in Lügde – um den Rest der Welt machte ich, so weit es ging, einen Bogen. Ein Luxus, und auch ein teilweise recht dunkler Schacht, den es nun zu verlassen galt. Meine über die Monate hochgezogene selektive Wahrnehmungsmauer wollte ich, so weit der Plan, stückchenweise wieder einreißen: Wieder die ganze Zeitung lesen, Nachrichten sehen – und dann zurück in die taz-Redaktion. Bereit für die ganze Bandbreite des täglichen Geschehens.
Doch schon in der Nacht zu Montag drängte sich die Welt in Form eines stechenden Brandgeruchs auf, der ins Schlafzimmer waberte. Ich stand nachts auf dem Balkon, schnüffelte ratlos in die Luft und fing im Morgengrauen an, zu googeln. Im 180 Kilometer entfernten Lübtheen stand der Wald auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz in Flammen. Die größte Brandkatastrophe Mecklenburgs. Oder, wie es schnell hieß, der sinnlich erfahrbare Vorbote des Klimawandels.
Wenig später brannte es, rein methaphorisch natürlich, im Europäischen Parlament und in der Großen Koalition: War die Überraschungspersonalie von der Leyen ein Sieg der Rechtsausleger Orbán und Salvini, die von der (mutmaßlich) Neuen weniger Ungemach zu befürchten haben als vom sozialdemokratischen Rechtsstaatshüter Frans Timmermans? Oder handelt es sich bei „Merkels Granate“ (taz) um den Coup einer Kanzlerin, der das Hinterzimmerprinzip näher ist als demokratische Beschlussprozesse? Fest steht jedenfalls, dass sich die SPD mal wieder selbst blamiert hat – nicht zuletzt mit dem Gepolter von Sigmar Gabriel, die CDU habe einen Koalitionsbruch begangen: Es hätte eines Kabinettsbeschlusses zur Personalie von der Leyen bedurft. Was aber gar nicht stimmt. Wahr ist natürlich: Jetzt ist eine Kandidatin im Spiel, die das Wahlvolk nie gewollt hat. Was man aber übrigens auch von Bremens neuer Regierung sagen kann: Das Wahlergebnis war ein deutliches Votum gegen die langjährige SPD-Regierung und für einen Wechsel – trotzdem kriegen die BremerInnen nicht nur den nächsten SPD-Ministerpräsidenten, sondern müssen auch ihre Bildungsmisere weiterhin von der SPD betreuen lassen. Demokratie ist aber nicht, wenn alle zufrieden sind, sondern wenn die Verfahren eingehalten wurden. In Bremen wurden sie das. Und in Brüssel steht es dem Europäischen Parlament frei, von der Leyen durchfallen zu lassen. Aber das ist erst Mitte Juli.
Zunächst noch einmal Nachrichten aus dem Themen-Tunnel: Am Freitag feierte die evangelische Brüdergemeinde im württembergischen Korntal ihr 200-jähriges Bestehen. Mit großem Rahmenprogramm und allem Halleluja. Ein Höhepunkt soll der Besuch des EU-Kommissars Günter Oettinger sein, der 1972 dort Abitur gemacht hat. Korntal ist ein hübsches Städtchen – und Schauplatz eines üblen Missbrauchsskandals. Im Hoffmannhaus, dem Kinderheim der pietistischen Brüdergemeinde, wurden schätzungsweise bis zu 300 Kinder Opfer von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt. Der 2018 vorgestellte Abschlussbericht, der 81 Täter und Täterinnen benennt, wurde von den Brüdern in beschämender Weise erst torpediert, dann manipuliert. Einem Täter ist sogar bis heute eine Gedenkplakette in der Stadt gewidmet. Dass zwei Betroffene angaben, als Jungen von diesem Mann vergewaltigt worden zu sein, ignorieren Gemeinde und Stadt bis heute. Was sind schon die Aussagen zweier ehemaliger Heimkinder gegen den Ruf eines ehrbaren Bürgers, der zudem der Stadt ein beträchtliches Vermögen gestiftet hat? Immerhin will sich Günther Oettinger am Rande der Feierlichkeiten mit dem Betroffenenvertreter Detlev Zander treffen. Ob der Absolvent des renommierten Gymnasiums die Qualen der Heimkinder von nebenan in seiner Festrede erwähnt, wie angekündigt? Es wäre ein wichtiges Zeichen gegen die Ignoranz kindlichen Gewaltopfern gegenüber, die noch immer wie Mehltau über dem Städtchen liegt.
Der Campingplatz Eichwald in Lügde dagegen kommt nicht zur Ruhe: Das Wohnwagenidyll ist erneut Schauplatz von Polizeidurchsuchungen. Während des Gerichtsprozesses gegen zwei pädosexuelle Camper kam heraus, dass offenbar eine dritte Parzelle befallen ist. Da haben offenbar drei alleinstehende Männer gegenseitig untereinander Kinder „getauscht“. Gelockt, erpresst, manipuliert, gefilmt und vergewaltigt. Über Jahre. Und keiner hat was gemerkt?
Der Tunnel hat mich wieder.
Nächste Woche Robert Misik
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