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der rote fadenDie Welt als Wille, Vorstellung und Vektorenfeld

Durch die Woche mit Robert Misik

Unsere Gehirne sind nicht besonders dafür gemacht, Zweideutigkeiten auszuhalten. Sind wir mit Phänomenen konfrontiert, dann wollen wir eine eindeutige Antwort. Ist Putin jetzt primär böse oder irgendwie nur halb? Ist der Sieg von Annegret Kramp-Karrenbauer jetzt ein Triumph einer liberal-humanitären Christdemokratie oder ein Rechtsruck? Ist Person X gut oder ein schlimmer Finger?

Dabei ist es natürlich in der Regel so, dass die richtige Antwort auf jedwede Frage dieser Art ist: Es ist kompliziert.

Gelbwesten-Proteste

Ein schönes Beispiel dafür ist die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Man kann jetzt sagen: Das ist die Rückkehr einer Art von Revolte, die bei uns schon beinahe ausgestorben schien, nämlich der Teuerungsrevolte. Früher wurden bei Brotpreisrevolten oder Bierpreisrevolten ja ganze Straßenzüge kurz und klein geschlagen, aber diese hatten ihre Hochphase im 19. und 20. Jahrhundert, und seit den 1970er Jahren sind sie in Europa doch eher selten geworden. Man kann sie als populäre Revolte mit Gravitationszentrum in der Provinz interpretieren, von Marseille bis Saint Etienne, vom Elsass über das Massif Central bis zur Normandie, der Bretagne oder zum Mittelmeer. Ein Aufstand der Abgehängten also, ohne klares Programm, aber mit einem Instinkt, sozusagen einem Klasseninstinkt derer, die wütend sind – auch über die Abwertung ihres Lebens.

Eine Revolte der Leute jenseits der Schickheitszonen. „Das Benzin ist ein Symbol für die Möglichkeit, mobil zu sein und nicht eingeschlossen zu bleiben“, sagt der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie. Es sind die, die mit Recht die Schnauze voll haben, formuliert die grandiose Annie Er­naux, die große französische Schriftstellerin. Und ihr Schriftsteller-Kollege Edouard Louis fügt hinzu: „Wer das Beschmieren von Denkmälern für etwas Schlimmeres hält als die Unmöglichkeit, sich selbst und die eigene Familie zu ernähren, der muss wirklich überhaupt keine Ahnung davon haben, was soziales Elend ist.“

Zugleich wird aber dann sofort darauf verwiesen, wie sehr die radikale Rechte es versteht, dieser Bewegung eine Sprache zu geben, die Rhetorik gegen die liberalen Eliten, gegen die Linken, die die einfachen Leute vergessen hätten. Es ist ja auch keine Bewegung für niedrigere Preise oder für höhere Löhne, sondern eine gegen höhere Steuern, die Preiserhöhungen bewirken – und damit ist sie anschlussfähig an reaktionäre Rhetoriken vom gefräßigen Staat.

Klasseninstinkt

Und dann ist da natürlich das ultimative Argument: Rechte Fake-News-Seiten schüren die Wut und Putins digitale Kampfgeschwader feuern mit ihren Bots den Volkszorn an.

Letzteres ist sicher auch nicht falsch – aber der Glaube, eine sinistre Macht könnte Unmut nach Belieben entfachen und steuern und hinter jeder diffusen Erscheinung, die noch nicht völlig eindeutig interpretiert werden kann, stünde einer, der im Hintergrund die Fäden zieht, lappt schon sehr in Richtung Verschwörungstheorie. Die Idee von Putins Posting-Armeen ist in gewisser Weise die Verschwörungstheorie, die gegenwärtig im liberalen Zentrum beliebt ist. Sie wird eben bloß nicht Verschwörungstheorie genannt, weil die Anhänger dieser Verschwörungstheorie üblicherweise über Anhänger von Verschwörungstheorien lachen. Eine Verschwörungstheorie für Gegner von Verschwörungstheorien, was für eine praktische Sache!

Volkszorn

Man sieht aber gerade an diesem Beispiel eben auch den Vorteil der Verschwörungstheorie, das, was Menschen so empfänglich für sie macht: sie erlaubt es, eine komplexe, diffuse Welt zu vereindeutigen. Etwas ist ambivalent, hat verschiedene Seiten? Na, da hilft es, sich einzureden, der böse Putin habe das alles angezettelt. Schon hat man eine schöne Ursache-Wirkung-Fantasie, die erlaubt, der Komplexität das Komplexe auszutreiben.

Das ist eben deutlich einfacher, als sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es vielleicht eine Wut gibt, die berechtigt ist, dass es spontane Revolten mit den richtigen Instinkten geben kann, die zugleich eben auch heterogen und instrumentalisierbar sind, etwa von der rechtsradikalen Hass­industrie oder von fragwürdigen anderen Akteuren, die sich ihre außenpolitischen Süppchen darauf kochen.

Putin

Es gibt generell zwei Arten, die Wirklichkeit zu sehen: Eindeutigkeiten zu suchen, wo Mehrdeutigkeiten sind, klare Pläne, wo eigentlich niemand einen Plan hat. Viel klüger ist es aber, die Welt und die Geschehnisse in ihr als Prozesse zu begreifen, so wie ein Kraftfeld mit vielen Vektoren, die alle wirken, aber keiner in die gleiche Richtung, die sich verstärken, aber sich auch gegenseitig blockieren.

Die Welt, wie Friedrich Engels einmal sagte, als Ergebnis vieler Willen, aber damit letztendlich als Wille von niemandem.

Nächste Woche Saskia Hödl

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