der rote faden: Schwäne auf Spitze, Allianz-Chef unter Arschlochverdacht
Durch die Woche mit Nina Apin
Angestrebter Gemütszustand: Adventsbesinnlichkeit. Ist-Zustand: Geht so. Zumindest gebe ich mir Mühe: Der mit dem Sohn in der Grundschule gebastelte Adventskranz steht auf dem Tisch, die selbst gebackenen Plätzchen sind auch gelungen – aber irgendwas ist ja immer.
Zum Beispiel die Kuvertüre: Enthält PALMÖL! Also das Zeug, das Regenwälder zerstört, Kleinbauern die Existenz raubt und Orang-Utan-Babys zu Waisen macht. Stand neulich im Greenpeace-Magazin – weswegen die Tochter, die bereits Crunchy-Müsli aus dem Haushalt verbannt hat, fast den Glasierpinsel weggeschmissen hätte. Aber dann siegte doch die Lust am Dekorieren.
Gemütlich war auch die Abendrunde in der Kneipe mit Freunden. Dann berichtete einer, dass die Wohnungen, die gerade in unserer Straße hochgezogen werden, für 8.500 Euro den Quadratmeter verkauft werden. Und das in einer Gegend, in der Versandhäuser Sofortzahlung bevorzugen. Betretene Gesichter bei den Anwesenden. Denn so eine Nachricht heißt ja nichts anderes als: Die Einschläge kommen näher.
Zum Beispiel muss die Musikschule meiner Tochter wegen Mieterhöhung demnächst raus. Doch es gibt auch Good News: Bekannte sind in eine Wohnung gezogen, deren Eigentümerinnen ihnen freiwillig sensationelle Mietkonditionen gewähren – sie wollen, erklärten sie den perplexen Neumietern, das allgegenwärtige Spiel der Gier nicht mitspielen. Wir trinken auf die guten Immobilieneigentümer und wünschen ihnen ein langes Leben.
Doch schon bei der Lektüre der aktuellen Zeit ist das kurzzeitige Wohlgefühl wieder im Eimer: Da erzählt Allianz-Chef Oliver Bäte frisch von der Leber weg, „Gerechtigkeit sei für ihn ein marxistischer Begriff. Er wisse gar nicht recht, was das sein solle – wenn, dann könne er überhaupt nur mit dem Begriff „Interessenausgleich“ etwas anfangen. Von der Analyse her ist das natürlich korrekt, schließlich hat nie jemand behauptet, im Kapitalismus gehe es gerecht zu. Und da Bäte ja fürs Risikenabschätzen zuständig ist und nicht Abgeordneter der Linkspartei, ist das Herstellen von, nennen wir es Chancengleichheit auch nicht sein Kerngeschäft. Aber als hochbezahlter Manager so was rauszuhauen bringt ihn trotzdem unter Arschlochverdacht. Wie soll man solche Äußerungen anders verstehen als: Herr Bäte von der Allianz findet dann wohl auch, dass es kein Recht auf bezahlbares Wohnen in der Innenstadt gibt – oder auf einen intakten Regenwald.
Klar ist es mit der Gerechtigkeit in der Praxis immer schwierig. So finden es die Besitzer der zuerst fertiggestellten Eigentumswohnungen in unserer Straße ungerecht, dass sie jetzt einen Gewerberiegel vor die Nase gesetzt kriegen – wo ihnen doch Parkblick versprochen wurde! Und ich finde es ein wenig ungerecht, dass ich mir gar keine Eigentumswohnung kaufen kann. Trotzdem gönne ich allen ihren Parkblick, auch den Alkoholikern, die immer am Mäuerchen vor Netto sitzen. Die könnten wahrscheinlich am ehesten ein paar ordentliche Parkbänke zum Sitzen gebrauchen. Ich eher einen Bäcker. Oder einen Bioladen. Ergibt sich daraus dann dieser Interessenausgleich?
Was ich hingegen verstehen kann, ist, dass Jens Spahn kurz vor dem CDU-Showdown so dermaßen gut gelaunt aussieht. Er kann sich über freundliche Berichterstattung im Spiegel freuen. Und darüber, dass er ja noch sooo viel Zeit hat im Gegensatz zu den anderen beiden KandidatInnen, für die es am Freitag in Hamburg heißt: Jetzt oder nie. Und Spahns bärtiger Ehemann – sichtbares Signal dafür, dass so einiges nicht mehr zurückzudrehen ist bei den Konservativen – lächelt auch mit sämtlichen Zähnen in die Kamera.
Könnte aber auch eine Grimasse des Schmerzes sein. Wie neulich bei den Tänzerinnen des russischen Staatsballetts, die ihre ausgemergelten Körper auf anmutigste Weise zu Tschaikowskys „Schwanensee“ bewegten – aber wer mal versucht hat, länger „auf Spitze“ zu stehen, weiß, wie verdammt weh das tut.
Während die Kinder neben mir hingerissen das Pas de quatre der kleinen Schwäne verfolgten, fixierte ich das hervorstehende Schlüsselbein der Odette und dachte über Drill, Essstörungen und Schönheitswahn nach. Des einen Freude scheint es ohne der anderen Leid nicht zu geben. Wie auch beim obligaten Weihnachtsmarkt, wo ein Haufen mies bezahlter Menschen in Nah und Fern daran gearbeitet hat, dass wir für ein paar Wochen dieses Konsumspektakel genießen dürfen. „Du hast die Adventskrise“, stellte eine Freundin fachmännisch fest.
Zum Glück ist Wochenende. Da kann ich es mir mit all meinen Zweifeln auf der Couch gemütlich machen und Pläne für ein nachhaltiges Fest entwickeln – bis ich dann drei Tage vor Weihnachten doch wieder das Kulturkaufhaus leer kaufe. Widersprüche kann ich nämlich mindestens so gut wegatmen wie Oliver Bäte und Jens Spahn.
Nächste Woche Robert Misik
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