der rote faden: Liebe und Verachtung fürs Proletariat
Durch die Woche mit Robert Misik
Kritik an der „Identitätspolitik“ ist heute modern. Die Linken sollten sich wieder „den Arbeitern“ zuwenden, heißt es, und alle klauben sich dafür ein paar Zitate aus Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ zusammen. Sogar eine neue Art von Proletkult hält Einzug.
Verstehen Sie mich nicht falsch, viele Aspekte dieser Debatte sind wichtig. Es ist unbestreitbar, dass sich bestimmte Milieus und soziale Schichten in unseren Gesellschaften kaum mehr repräsentiert fühlen: Bevölkerungsgruppen, die das Gefühl haben, dass sie zwar wählen dürfen, aber eigentlich keine Stimme haben. Und da gibt es dann von Linksparteien bis Sozialdemokraten Leute, die meinen, man müsse den ganzen liberalistischen Klimbim über Bord werfen und wieder zum Fürsprecher dieser Leute werden.
Und wie so oft sind die Dinge halb richtig und halb falsch.
Es wird da ein Bild der „Arbeiterklasse“ oder der „unteren Mittelschichten“ gezeichnet, das einer Karikatur sehr nahekommt. Dass sie von Akademikern nicht repräsentiert werden könnten, weil die so kompliziertes Deutsch sprächen und, fucking hell, sogar nach der Schrift. Dass man daher in der Sprache der „normalen Leute“ sprechen müsse, am besten im Dialekt und so ein bisschen hingerotzt, wie das die Trinker an der Würstelbude täten. Dass man diesen Leuten nicht mit Kunst, Feminismus oder Antirassismus kommen dürfe. Dass man die irgendwo „abholen“ müsse, am besten von ihrer Wohnzimmercouch, wo sie, das Bier in der rechten, die Chipspackung in der linken Hand, vor dem Trashfernsehen hingen.
Urteilsfähigkeit habe diese Arbeiterklasse eher weniger, dafür viele Vorurteile. Aber irgendwie doch das Herz am rechten Fleck. Einfache Leute eben, the regular guys, wie die Amis sagen. Man weiß aber eigentlich gar nicht so recht, wer diese „Arbeiterklasse“ ist, der man sich jetzt wieder mehr widmen müsse. Sind das Automobilarbeiterinnen in Stuttgart am Fließband? Hartz-IV-Empfänger in Chemnitz? Der Heizungstechniker beim Installateurbetrieb? Prekär Beschäftigte beim Postshop um die Ecke? Regaleinräumerinnen im Supermarkt? Gehören kleine Angestellte im Personalbüro bei, sagen wir, Siemens nicht auch irgendwie dazu?
Und vor allem weiß man nicht, ob die neu entdeckte Liebe zum Proletariat oder zu den „einfachen Leuten“ von Verachtung wirklich noch zu unterscheiden ist. Weil, irgendwie wird immer so getan, als wären die doof. Oder jedenfalls nicht so klug und feinsinnig wie die Bobos aus der Innenstadt.
Meine Lebenserfahrung sagt mir das Gegenteil. Etwa: Die Menschen sind alle unterschiedlich. Sie sind natürlich auch Produkt ihrer Umgebung, aber gerade deshalb ist der Arbeiter in der Großfabrik anders als der Bote beim Lieferservice, tickt die Friseuse auf dem Dorf anders als die Bürofachkraft in der Stadt. Manche sind bildungshungrig, andere interessieren sich für nix. Manche gehen in ihrem Job auf und lieben ihn, andere packen schon um 14 Uhr langsam zusammen und schleppen sich dann durch bis Dienstschluss. Die einen machen Party, die zweiten Ausflüge mit den Kindern, andere grillen gern mit den Kollegen, und wieder andere lesen gerne oder haben einen Spleen, worin sie eine Kapazität sind, etwa im Sammeln alter Jazzplatten. Stahlarbeiter sind oftmals auch Feministen, schließlich soll ihre Tochter keine Nachteile haben.
Klar sagen viele über irgendwelche Jungpolitiker, die direkt vom Hörsaal in die Parteifunktion gewechselt sind, die hätten vom Leben doch keine Ahnung und interessierten sich nicht einmal für „uns normale Leute“. Die gleichen – oder andere – bewundern es aber wiederum, wenn es einer oder eine aus ihren Kreisen durch Fleiß und auf dem zweiten Bildungsweg nach oben geschafft hat. Manche reden kluges Zeug, andere vertrottelten Scheiß.
Die Karikatur, die gezeichnet wird, erschwert es, jene Gräben zu verstehen, die diese Milieus von den oberen Mittelschichten und den führenden Kadern der Linksparteien tatsächlich trennen. Man zählt Letztere, nicht zu Unrecht, oft zu einer verfestigten Kaste Etablierter. In der „Arbeiterklasse“ und der „unteren Mittelschicht“ (die Amerikaner haben es übrigens leichter, die nennen beide working class, und das hat eine andere Bedeutung als „Arbeiterklasse“) gibt es auch heute noch weit verbreitete Vorstellungen des „Normalen“. Die Lebensstile der oberen Mittelschichten, in denen jeder und jede heute etwas Besonderes sein will und das auch ausstellen muss, empfindet man nicht nur als anders, sondern als Abwertung des Eigenen. Weil man spürt, dass aus diesen Sphären der Selbstverwirklichung auf alles „Normale“ bestenfalls mitleidig, oft verächtlich herabgesehen wird.
Aber niemand verachtet das Proletariat so wie die Wortführer des neuen Proletkultes.
Nächste Woche Saskia Hödl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen