der rote faden: Gesichtshaare im Flusensieb und ein innerer Autokorso
Durch die Woche mit Nina Apin
Die politische Woche begann im Modus einer wild gewordenen Waschmaschine: In immer schnelleren Umdrehungen lief bei der SPD die Parteitrommel heiß. Die defekte Steuerungselektronik des angeschlagenen Großgeräts schleuderte die Personalien nur so durcheinander. Von Martin Schulz und Sigmar Gabriel hatte der Schleudergang der letzten Woche nur noch ein paar Gesichtshaarstoppeln übrig gelassen. Und da: Im Flusensieb hing noch eine Haarspange der kleinen Marie! Jetzt walkt es Andrea Nahles durch, leider hat die SPD den Weichspüler vergessen, so dass die Ex-Parteilinke fast am ausgestreckten Mittelfinger des Groko-Verächters Kevin Kühnert hängen blieb – und sich schließlich im Reißverschluss der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange verhakte. Moooment – will da eine etwa einfach so in den Parteivorstand durchrutschen? Stopp. Pausentaste, zurück aufs Basisprogramm. Aber dazu siehe Leitartikel oben.
Was das Schleuderganggefühl privat noch verstärkte, war die Rückkehr zum Arbeits- und Familienalltag nach einer Woche Winterferien. „In den Schnee fahren“, wie man das als Angehöriger der urbanen Mittelschicht gefälligst zu machen hat – damit man hinterher mit anderen Mittelschichtsfamilien Handyfotos vom statuskonformen Wintersportglück austauschen kann: Schaut, hier sind die Kinder in ihren Pistenuniformen, die Große hat echt was drauf, hat der Skilehrer gesagt, so war der Ausblick aus unserem Hotel, hattet ihr auch so viel Schnee? Ach, es war sooo entspannend – und ja, leider auch ziemlich teuer.
Wobei es natürlich gewaltige Abstufungen gibt – die einen fahren nach Graubünden mit Hotel und Wochenpass, wir waren bloß in Reit im Winkl, paar Schnupperstunden für die Kleinen und abends heim zu Oma und Opa zum Essen. Trotzdem: Wir waren irgendwie dabei beim Winterfreizeitzirkus. Jetzt sind die Koffer ausgepackt, die Schneeanzüge gewaschen (ja, es wurde auch bei uns sehr viel gewaschen!) – und mich hat die Depression gepackt.
So ist das also jetzt? Ein tierisches Gerödel, nur um zu viert ein paar Tage „im Schnee“ zu verbringen, zusammen mit anderen die Alpen kaputtzurutschen und sich dabei unter Hochdruck zu entspannen (ein paar Tage netto sind ja nichts) – um wieder Ressourcen zu tanken für einen Alltag zwischen Kinderwegbringen, Konferenzen, Deadlines, Kantine (nur vegetarisch und ohne Weißbrot, man war ja gerade in Bayern) und abendlicher Selbstoptimierung (Schrott gucken kann ich mir nicht leisten, ich hab noch zwei Sachbücher offen, wollte mal verfolgen, was der oder die zu Free Deniz, MeToo oder Groko schreibt, und der Berlinale-Besuch müsste auch mal angegangen werden, sonst sind dann wieder alle Karten weg).
Mein auflodernder Mittelschichts-(Selbst-)Hass hat sicher auch mit meiner derzeitigen Lektüre zu tun. In dem Bändchen „Die lange Nacht der Metamorphose“ (Matthes und Seitz, 210 Seiten) beschreibt der Philosoph Guillaume Paoli ein Phänomen unserer Zeit, das er „anthropolologische Mutation“ nennt: Eine geistige Transformation sei im Gange, die uns alle zu Mutanten des globalen Liberalismus mache. Dessen Kennzeichen: „Flexibilisierungsdrang, Selbstoptimierungswahn, Konsumsucht, Narzissmus und Depression“. Die liberale Utopie, so Paoli, habe auf ganzer Linie gesiegt – einfach, weil sie übrig geblieben sei. Jetzt lässt sich gegen Meinungs- und Pressefreiheit, Minderheitenschutz und Konsensorientierung nicht viel sagen – außer man ist ein radikaler Kriegsromantiker. Paoli ist sicher keiner, aber als Mitbegründer der Initiative „Glückliche Arbeitslose“ treibt den Mann ein fundamentales Unbehagen an unserer marktliberalen Daseinsform um, die er gespalten sieht: Hier die einen, die sich an Dingen festhalten, die zu verschwinden drohen – dort diejenigen, die den Wandel auf ihrer Seite zu haben scheinen. Und, na ja, zu den Abgehängten will ja keiner gehören.
Während Paoli in seinem Buch von den total enteigneten Konsumzombies, die Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ bevölkern, zu dem englischen Kulturtheoretiker Mark Fisher reitet, der von einer Gesellschaft ohne Zukunft, ohne Versprechen „auf ein anderes Leben jenseits von Vereinzelung, Arbeitszwang und Resignation“ schreibt, packt mich das Grauen. Schnell Buch weglegen, Fernseher an. Bei der Paarkür im Eiskunstlauf findet das depressionsgeschüttelte Mittelschichtsindividuum temporäre Entlastung: Wurfrittberger! Todesspirale! 3-fach-Salchow! Das Duo Savchenko/Massot hat sich geplagt, um den ZuschauerInnen ein Leichtigkeitsspektakel zum Seufzen zu servieren. Dafür gab’s dann auch Gold.
Schluss mit der Wochendepression war dann aber endgültig am Freitagmittag: Noch vor Öffnung der Kantine die Eilmeldung: Deniz Yücel ist frei. Innerer Autokorso! Es ist nicht alles schlecht in diesem Leben!
Nächste WocheKlaus Raab
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