der rote faden: Radikale Freiheit, maximale Auswahl – wer hält das aus?
Durch die Woche mit Robert Misik
Es gibt ja gerade eine Obsession mit Identität. Identität ist so eine Sache, die ganz allgemein positive Assoziationen hervorruft. Wer eine bestimmte „sexuelle Identität“ hat und die ohne Angst und Ressentiment ausleben kann, dem oder der oder * geht es besser als jemandem, der oder die das nicht kann.
Identität wird erkämpft, und wenn sie einmal erkämpft ist, dann ist das gut. „Identität“ ist aber auch eine Kampfvokabel der ganz anderen gesellschaftspolitischen Seite. „Kulturelle Identität“, etwa im ethnisch geprägten Nationalstaat, Leitkultur, all das muss verteidigt werden gegen Auflösungserscheinungen, Vermischungen, Dezentrierungen, meint man da.
Dass allein der Begriff „kulturelle Identität“ eine absurde Wortkombination ist, darauf hat gerade der französische Denker François Jullien in seinem Buch „Es gibt keine kulturelle Identität“ hingewiesen. Das trägt die These schon im Titel: Kultur ist nie natürlich, sondern immer von Menschen gemacht, sie verändert sich, nimmt Anregungen und Einflüsse auf, ist ein stets variierendes Mosaik, kurzum: „Kulturelle Identität“ ist so ziemlich das Gegenteil von Identität, die ja eine gewisse Fixiertheit unterstellt. Die Wortkombination „kulturelle Identität“ sei also, meint Jullien, etwa so sinnvoll wie „schmutzige Sauberkeit“ oder „brutal friedlich“.
Aber wahrscheinlich steckt im Begriff der „Identität“ eine Sehnsucht nach Klarheit und Eindeutigkeit. Bei den Radikalen sieht man das ja deutlich: Wer seine „teutsche Identität“ hochhält, wähnt diese meist bedroht. Wer die „muslimische Identität“ hochhält, der sieht sie meist auch von einem Ozean der Gefahren umgeben.
Identität, so betrachtet, ist eine Rebellion gegen absolute Freiheit, eine Rebellion gegen eine Welt, in der nichts gegeben und in der alles wählbar ist. Entscheidungen überfordern, dauernde Auswahl macht auch unglücklich. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in einigen berühmten Studien darauf hingewiesen, wie Liebe, Romantik und Beziehungen heute dem Konsummodell folgen, das man aus der Warenwelt kennt, beruht doch der „Konsum auf dem Drang nach Erregung, denn der Kauf und die Erfahrung neuer Waren sind eine Quelle der Freude, und die Affäre befriedigt mit all der Erregung eines neuen Liebhabers diesen Drang ebenso“. Auf Partner lassen wir uns nicht mehr völlig ein, denn es könnte ja ein noch besserer um die Ecke kommen. Partnerschaften, einmal eingegangen, haben von Beginn an ihr Ablaufdatum, da wir sie nur mehr als „Lebensabschnittspartnerschaften“ definieren.
Und all das ist ja gut so. Man hat Auswahl wie nie und nichts ist festgelegt. Radikale Freiheit. Nur folgt aus dieser radikalen Freiheit auch zugleich Unfreiheit. Man lebt im Ungefähren und in der Unentschiedenheit. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz nennt das the paradox of choice, die Auswahl, die unglücklich macht. Damit ist nicht gemeint, dass wir sofort unglücklicher werden, sobald wir wählen können. Nicht einmal, dass uns die Auswahl ab einer bestimmten Menge der Möglichkeiten unglücklich macht. Sondern es gibt ja auch bei vielen Wahlmöglichkeiten Aspekte des Unwägbaren, was eine vernünftige Auswahl verhindert.
Bei der Partnerwahl weiß man nicht, ob nach den Sensationen der ersten Wochen genug an Beständigkeit zurückbleiben wird, bei der Auswahl zwischen 5.000 verschiedenen Smartphone-Modellen kann man unmöglich ausreichende Informationen haben, die die Entscheidung stützen, und bei vielen elementaren Dingen würden wir eigentlich am liebsten bevormundet. Wenn ich lebensgefährlich erkranke, will ich nicht, dass der Arzt mich fragt, welche Therapie ich bevorzuge – ich will einfach, dass er die eine, die beste Therapie beginnt. Und zwar pronto. Der Fluch der Auswahl besteht also oft auch darin, dass die Entscheidung von kompetenten Leuten auf inkompetente Leute – also Kunden wie dich und mich – abgewälzt wird, die mit dieser Entscheidung schon deshalb überfordert sind, weil ihnen für eine Wahl wesentliche Informationen fehlen.
Entscheidungsstark nennt man heute daher nicht unbedingt Leute, die gut darin sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen, sondern Leute, die gut darin sind, eine Entscheidung zu treffen, obwohl sie nicht die Spur einer Ahnung haben, ob es die richtige Entscheidung ist. Solche Leute nennt man Vorstandsdirektoren oder neudeutsch CEOs. Und damit sind wir auch wieder bei der Tagespolitik angelangt: Soll die SPD Neuwahlen erzwingen, eine Minderheitsregierung von Merkel stützen oder in eine Große Koalition gehen? Das hängt natürlich letztlich von der Einschätzung ab, welche der Varianten der Partei am wenigsten schaden wird. Ich hab natürlich auch keine Ahnung. Aber wäre ich entscheidungsstark im obigen Sinne und auch noch SPD-Chef, würde ich wohl Groko sagen. Oder vielleicht auch nicht.
Nächste Woche Klaus Raab
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